sammlung

ein brief nach indien

So könn­te die Ent­de­ckung einer Geschich­te, die von Jennifer.five erzählt, im Jahr 2014 an irgend­ei­nem son­ni­gen Tag Ende Okto­ber ihren Anfang genom­men haben. Ich sen­de­te damals einen Brief nach Kal­kut­ta, stun­den­lang hat­te ich die Stadt zu jenem Zeit­punkt bereits in der digi­ta­len Sphä­re aus der Fer­ne mei­nes  Bild­schirms beob­ach­tet. Ich ermit­tel­te in Stra­ßen­ver­zeich­nis­sen der rie­si­gen Metro­po­le, such­te nach einem Haus, nach einer pos­ta­li­schen Anschrift, um einen Brief an eine nicht exis­tie­ren­de Per­son sen­den zu kön­nen. Das war näm­lich so gewe­sen, dass ich eine Ant­wort der indi­schen Post zu erhal­ten wünsch­te, eine Rück­sen­dung mei­nes ursprüng­li­chen Brie­fes, ver­se­hen mit dem Ver­merk, der Brief kön­ne nicht zuge­stellt wer­den. Ich habe auf die­sen ers­ten Ver­such einer pos­ta­li­schen Son­de hin lei­der kei­ne Ant­wort erhal­ten. Auch ein Brief nach Peking, den ich in der der­sel­ben Art und Wei­se ver­schick­te, lös­te sich ver­mut­lich in einem Zer­klei­ne­rungs­ge­rät auf oder lagert seit­her in einem Maga­zin unzu­stell­ba­rer Briefe.

Viel­leicht wer­den Sie sich fra­gen, wie mein Wunsch unzu­stell­ba­re Brie­fe zu ver­sen­den, ent­stan­den sein könn­te. Ver­mut­lich des­halb, weil ich ent­deck­te, wie schön sie anzu­se­hen sind, sofern sie zurück­keh­ren, bun­te Schrift­stü­cke, mit exo­ti­schen Stem­peln ver­se­hen, die über­haupt eben weit gereist, manch­mal Mona­te lang unter­wegs gewe­sen sind. Eines die­ser wun­der­ba­ren Rei­se­ge­schöp­fe hielt ich vor vie­len Jah­ren per­sön­lich in Hän­den. Das Luft­post­do­ku­ment, ein Kuvert ohne Inhalt, ruh­te auf mei­nem Schreib­tisch. Als ich das Cou­vert genau­er betrach­te­te, das heißt, als ich den Brief so nahe an mei­ne Augen her­an­führ­te, dass ich die Stem­pel­ein­trä­ge sei­ner Anschrif­ten­sei­te ohne Bril­le ent­zif­fern konn­te, bemerk­te ich, dass der Brief bereits vor lan­ger Zeit in Euro­pa auf­ge­ge­ben und über den Atlan­tik geflo­gen wor­den war. In Sant­ia­go de Chi­le dann ange­kom­men, konn­te der Brief nicht zuge­stellt wer­den, ver­mut­lich weil die Zei­chen, die den Brief ursprüng­lich beschrif­te­ten, kaum zu ent­zif­fern gewe­sen waren. Nach eini­gen Wochen War­te­zeit, reis­te der Brief, nun mar­kiert mit einem Schild­chen in blau­er Far­be: Impo­si­ble de ent­re­gar!, über den Atlan­tik zurück, um sich nur weni­ge Tage spä­ter erneut auf den Weg über das Meer nach Chi­le zu bege­ben. Ein wei­te­rer Schrift­zug war hin­zu­ge­kom­men, ein fei­ner, aber groß­zü­gi­ger Stem­pel­auf­druck: Die­se Sen­dung wur­de von einem Blin­den geschrie­ben! Zwei fri­sche Wert­mar­ken, nichts sonst war ver­än­dert. Und so mach­te sich der Brief bald dar­auf ein vier­tes Mal auf den Weg über das Meer wie­der nach Euro­pa zurück und lan­de­te bald in mei­ner Nähe, in der Nähe mei­ner Schreibmaschine.

So hat das ange­fan­gen, eine Lei­den­schaft. Brie­fe flo­gen nach Bue­nos Aires, nach New York, nach Kai­ro, Tan­ger. Ich war­te­te. Indem ich auf zurück­keh­ren­de Doku­men­te war­te­te, such­te ich nach wei­te­ren Orten, nach Per­so­nen, die nicht exis­tie­ren. Eine span­nen­de Zeit welt­wei­ter Son­die­rung. Im Som­mer des ver­gan­ge­nen Jah­res dann erhielt ich eine Nach­richt aus Uum­man­n­aq, eine E‑Mail, einen Hin­weis, dass ein Brief, der in Uum­man­n­aq eigent­lich nicht zuge­stellt wer­den konn­te, wider Erwar­ten doch ange­kom­men war. Die E‑Mail war in eng­li­scher Spra­che notiert. Der Mann, der sie notier­te, erzähl­te, er habe mei­nen Namen mit­tels Such­ma­schi­nen son­diert, er hof­fe, ich sei tat­säch­lich der­je­ni­ge, der den Brief nach Uum­man­n­aq auf­ge­ge­ben habe. Er sei von mei­nem Pro­jekt unzu­stell­ba­rer Brie­fe beein­druckt. Der Mann setz­te hin­zu, dass er bereits seit zwei Mona­ten in einem Haus lebe, das von Men­schen wohl ver­las­sen wor­den sei. Dort­hin sei mein Brief, wäh­rend er gera­de über die klei­ne Insel wan­der­te, unter der Tür hin­durch zuge­stellt wor­den. Er teil­te wei­ter­hin mit, er wür­de den kom­men­den Win­ter in Uum­man­n­aq ver­brin­gen, um Dun­kel­heit ken­nen­zu­ler­nen, sowie das Ver­hal­ten des Eises zu beob­ach­ten, wel­ches im Win­ter leuch­ten soll von der Lumi­nes­zenz gewal­ti­ger Meer­wal­nuss­ver­samm­lun­gen. Er habe in dem klei­nen Haus ein Heft vor­ge­fun­den.  Ob ich das Heft ger­ne lesen wür­de? Eini­ge Tage spä­ter erhielt ich auf elek­tri­schem Wege Foto­gra­fien eines Notiz­bu­ches, Sei­te um Sei­te, sehr gut les­bar. Außer­dem eine Datei jener Tex­te, die von Joe Ellis an Bord einer Ret­tungs­in­sel notiert wor­den sind. Ich habe alle Doku­men­te geprüft und in Maschi­nen­schrift über­setzt. Wenn Sie wol­len, lesen Sie unver­züg­lich Noe Moritz Papes auf­re­gen­den Bericht, der von der Ent­de­ckung eines wei­te­ren auf­re­gen­den Tex­tes erzählt.

/  Moritz Pape berichtet
aus Uum­man­n­aq. Es
herrscht Polar­nacht
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vom erfinden und finden

Manch­mal erfin­de ich eine Geschich­te. Kurz dar­auf ver­ges­se ich die Geschich­te wie­der, und wenn ich sie dann nach Wochen oder Jah­ren wie­der­fin­de, scheint sie zu einer wirk­li­chen Geschich­te gewor­den zu sein, das ist selt­sam. Auch weil Geschich­ten, die ein­mal erfun­den wor­den sind, sich wie Lebe­we­sen ver­hal­ten, sie altern oder wer­den jün­ger. Ein­mal stell­te ich mir vor, wie ich in einer Nacht um kurz nach vier Uhr in mei­ner Küche sit­ze. Ich tra­ge Hand­schu­he. Ich schal­te mein Ton­band­ge­rät ein und spre­che lei­se vor mich hin, in dem ich ein zer­brech­li­ches Eis­buch in Hän­den hal­te. Kaum habe ich eine Sei­te des Buches abge­tas­tet, lege ich das Buch in den Kühl­schrank zurück und spa­zie­re in der Woh­nung her­um. Ich las­se mir durch den Kopf gehen, was ich gele­sen habe, dann keh­re ich zurück und lese vor dem Kühl­schrank sit­zend wei­ter. Mein Atem dampft, und ich den­ke noch, eine selt­sa­me Geschich­te, das Buch wird nach und nach unter mei­nen Augen ver­schwin­den, wäh­rend ich sei­ne Zei­chen in mei­nem Kopf transferiere.

Heu­te ist der 28. Febru­ar 2020. In den ver­gan­ge­nen Tagen habe ich viel über Noe Moritz Pape nach­ge­dacht, wie er in der klei­nen grön­län­di­schen Stadt Uum­man­n­aq ange­kom­men sein könn­te, um fünf Tage spä­ter sich wie­der auf den Weg zu machen, zu ver­schwin­den, sagen wir, als wäre er ein Buch von Eis. Der jun­ge For­scher war in den Wochen mei­ner Arbeit an sei­ner Sei­te der­art wirk­lich gewor­den, dass ich um ihn trau­er­te, dass ich über­leg­te, wie es wäre, wenn er über­le­ben wür­de. Ich könn­te ihm einen Brief schrei­ben, ich könn­te notie­ren: Mein lie­ber Noe Moritz Pape, ich stell­te mir vor, wie Du ankommst in der klei­nen Stadt Uum­man­n­aq hoch im Nor­den in der Dun­kel­heit einer Polar­nacht, an einem Ort für Dich ohne ein Bild zunächst wie sich die Stadt Uum­man­n­aq im Licht des Som­mers dar­stel­len wird. Da war eine  Nach­bar­schaft ohne Men­schen, aber etwas Licht auf dem Fjord und Dei­ne Beru­fung, die Dich nach Uum­man­n­aq führ­te zur Polar­nacht­zeit. Du bist ein sorg­fäl­ti­ger Arbei­ter, ich bin froh, dass ich Dich ent­de­cken, dass ich in Gedan­ken Dei­ne Stim­me ver­neh­men, dass ich Dei­ner Spur fol­gen durf­te, ehe Du in der Dun­kel­heit ver­schwun­den bist, ein Wan­de­rer noch immer in der Eis­wei­te des grön­län­di­schen Hoch­lan­des. Ich stel­le mir vor, wie Du viel­leicht irgend wann ein­mal wie­der in Uum­man­n­aq ankom­men wirst, um nach­zu­se­hen wie die klei­ne Stadt im Licht der Son­ne auf Dich wir­ken wird. Du wirst nach Spu­ren suchen einer Geschich­te, die sich im Dezem­ber 2018 ereig­net haben könn­te, eine Geschich­te, von der Du erzähl­test, nach­weis­lich erzähl­test, weil Dei­ne Zei­len ent­deckt wor­den sind. So wur­de mei­ne per­sön­li­che Arbeit erst mög­lich. Viel­leicht wirst Du von mir hören und von der Geschich­te der Jennifer.five, weil Dir ein Fischer berich­tet von mei­ner Doku­men­ta­ti­on Dei­ner gefahr­vol­len Arbeit. Du sitzt nun vor einer Com­pu­ter­ma­schi­ne, lies mein Freund, und lass von Dir hören. Dein Lou­is / 28. Febru­ar 2020

 

/  So könn­te es gehen,
zunächst lesen was Noe Moritz
Pape in Uum­man­n­aq erleb­te
>

… oder

/  vom Tas­ten, von
Teil­chen, vom
Flug­sand
 >

persönlichkeiten

Zu einer Zeit, da ich häu­fig an Mrs. Cal­las dach­te, stell­te ich mir vor, ich wür­de mit ihr spa­zie­ren gehen. Es war Win­ter, es schnei­te, als wäre noch wirk­lich Win­ter wie zu einer Zeit als ich noch Kind gewe­sen war. Mrs. Cal­las und ich besuch­ten einen Park. Ich beob­ach­te wie sie Schnee­flo­cken zähl­te, wie sie ver­such­te jede Flo­cke, die vom Him­mel schau­kel­te, für sich mit ihren Zei­ge­fin­gern berüh­ren. Aus der Ent­fer­nung betrach­tet, moch­te man mei­nen, Mrs. Cal­las wür­de sich mit nicht sicht­ba­ren Flie­gen oder Schmet­ter­lin­gen unter­hal­ten, oder mit Engeln, die so klein waren, dass sie selbst im Tages­licht nicht sicht­bar gewe­sen wären. Ich dach­te, sobald Mrs. Cal­las Schnee­flo­cken zu zäh­len wünscht, spricht sie mit ihren Hän­den. Sie war sehr schnell in die­ser Bewe­gung des Spre­chens, und sie war glück­lich und auf­ge­regt wie ein Mäd­chen, wie sie auf Zehen­spit­zen stand und so herz­lich lach­te, dass selbst scheue Rei­her ange­flo­gen kamen, um nach­zu­se­hen, wer das sein könn­te da am Ufer eines klei­nen Sees.

 

Maria Cal­las 1958. Für die­se Fotografie,
so wird erzählt, wur­de kein
Copy­right je registriert. 

 

Mrs. Gin­ger Cal­las selbst lern­te vor eini­gen Jah­ren Joe Ellis ken­nen, als er das Labor­schiff Sea­town besuch­te, ein muti­ger Jour­na­list, der kurz nach sei­nem Besuch, unter dra­ma­ti­schen Bedin­gun­gen auf hoher See Depe­schen von Bord einer Ret­tungs­in­sel sen­de­te. Ich weiß nicht wie das gekom­men ist, aus irgend­ei­nem Grund dach­te ich, wäh­rend ich notier­te, an Jack Kerouac, wie er an sei­ner Schreib­ma­schi­ne sitzt und fie­ber­haft sei­nen Roman On the Road auf eine nahe­zu 40 Meter lan­ge Papier­rol­le tippt. Ich neh­me an, Joe Ellis wür­de sehr ger­ne in die­ser unge­stü­men Wei­se gear­bei­tet haben. Lei­der sah er sich gezwun­gen in kür­ze­ren Abstän­den an der Kur­bel sei­ner elek­tri­schen Auf­zeich­nungs­ma­schi­ne zu dre­hen, um Strom zu erzeu­gen, je eine abrup­te Unter­bre­chung sei­ner kon­zen­trier­ten schrei­ben­den Arbeit.

 

Jack Kerouac um 1956
auf­ge­nom­men von
Tom Palumbo

 

Das Ver­schwin­den eines Man­nes auf hoher See, eine tra­gi­sche Geschich­te, eine Geschich­te, die nur des­halb in ihrer Sub­stanz für uns sicht­bar wur­de, da an einem win­ter­li­chen Tag, es herrsch­te Polar­nacht, vor der ver­eis­ten west­li­chen Küs­te Grön­lands, eine Grup­pe wei­ßer Wale einem Schwarm von Meer­wal­nüs­sen folg­te, der zau­ber­haft leuch­te­te und wun­der­bar schmeck­te. Einer der Wale durch­brach ver­se­hent­lich die Decke des Eises, wel­ches von Mee­res­wär­me ange­grif­fen, nahe­zu trans­pa­rent gewor­den war. Der Wal, ein Weib­chen namens Jennifer.five, wird ver­mut­lich weit hin über das Eis des Fjor­des gefah­ren sein wie auf einem Schlit­ten, um sich dann jen­seits des Was­sers auf dem Eis gefan­gen zu sehen. Sie erfror. Das war weni­ge Jah­re, nach­dem Joe Ellis ver­schwun­den war. Genau an die­ser Stel­le, dort auf dem Fjord vor der west­li­chen Küs­te Grön­lands wur­den Spu­ren Joe Ellis wie­der­ent­deckt. Noe Moritz Papes Berich­te aus Uum­man­n­aq, er wohn­te der Unter­su­chung des gestran­de­ten Wal­kör­pers aus grö­ße­rer Ent­fer­nung bei, soll­ten dem muti­gen Jour­na­lis­ten Joe Ellis gewid­met sein.

 

Jennifer.five auf dem Eis.
Men­schen arbei­ten an und auf
ihrem mäch­ti­gen Kör­per. Diese
Skiz­ze beleuch­tet Polarnacht.
Eigent­lich ist es dunkel.

 

Da war noch etwas gewe­sen. Noe Moritz Pape scheint wäh­rend der Tage, die er in Uum­man­n­aq ver­brach­te, einen per­sön­li­chen Beschüt­zer gehabt zu haben, eine Per­son, die nur sel­ten sicht­bar wur­de. Ein­mal, im Dezem­ber, spa­zier­te ich in einem Park her­um. Es war eben genau jener Park, in dem ich mit Mrs. Cal­las wan­der­te. Plötz­lich erin­ner­te ich mich deut­lich an die Foto­gra­fie eines äußerst ver­we­gen wir­ken­den Man­nes, eines Pilo­ten, der Luft­post­flug­zeu­ge in die Wild­nis flog, so prä­zi­se könn­te Noe Moritz Papes per­sön­li­cher Beschüt­zer aus­ge­se­hen haben, das ist denkbar.

 

U.S. Air­mail Service Pilot Bill Hopson
1926. Er starb zwei Jah­re später
bei einem Flugzeugabsturz

 

So ist gewor­den: Zwei weib­li­che und zwei männ­li­che Wesen. Von jenem Mann, von Noe Moritz Pape, der an die­ser Stel­le eine Geschich­te notiert aus gro­ßer Ent­fer­nung einer Polar­nacht­zeit, exis­tiert weder Zeich­nung noch Foto­gra­fie, er ist frei, er könn­te von Ihnen noch belich­tet werden.

 

/  Moritz Pape berichtet
aus Uum­man­n­aq. Es
herrscht Polarnacht >