Moritz Pape erreicht Uummannaq.
Es ist Dezember, polare Nacht, dunkel.
Unverzüglich beginnt er mit seiner
Arbeit des Notierens und Wartens.
15. DEZEMBER — 20:06 UTC / Im Licht meiner Stirnlampe dreht sich ein getrocknetes Sträußchen Blumen im leichten Zugwind. Das Sträußchen baumelt an einem kaum sichtbaren Faden kopfüber von der Decke. Da sind Fenster, zwei hin zum Fjord, der tief unter mir liegt, eines seitwärts nach Westen, nach hinten hinaus kein Fenster, auch nicht nach Osten. Auf dem Fensterbrett reihen sich Eisbären, geschnitzte Figuren, auch der Nachbau eines Schlittens, knöchernes Material und Fäden und Leder, sorgfältig verklebt, filigrane Arbeit, sowie eine Schneekugel, dort im Innern das Empire State Building. Eine Rolle festen schwarzen Garns ist da noch, die nicht angetastet wurde. Gleich neben der Tür, an zwei Holzschrauben befestigt, eine Hose von Eisbärenfell, darunter zwei Paar Schuhe von Pelz, dunklem Pelz, vielleicht vom Fell einer Robbe. Der Dielenboden, von Schritten rau geworden, scheint gewärmt zu sein. Ein Regal versammelt einige wenige Bücher, deren Schriftzeichen ich nicht entziffern kann, unter ihnen ein Atlas, sowie ein Heft mit Notenblättern. Das Holz der Wände des Zimmers wurde unlängst weiß gestrichen, das muss vielleicht im zurückliegenden Sommer gewesen sein, kaum weitere Spuren an den Wänden, aber die Maserung des Holzes, die sich durch die Farbe drückt. Da ist eine Fotografie, schwarzweiß, sie zeigt eine Insel, vermutlich jene Insel, auf der ich mich in diesem Moment befinde, eine Insel ohne Schnee und Eis von Meerwasser umgeben, Uummannaq in einem Sommer weit vor meiner Zeit. Einige niedrige Holzhäuser, eingezäunte Gärten, eine ebenso hölzerne Kirche mit Turm, Wäsche an einer Leine vor Graslandschaft, vor Felsen, auf welchen Häuser befestigt sind, im Hintergrund erheben sich zwei mächtige Inselspitzen. In der Mitte des Bildes, ein Mann und eine Frau, sie stehen still, sehen zur Kamera hin. Der Mann trägt feine Sonntagskleidung, die Frau ein knöchellanges Kleid, das Kleid scheint sich zu bewegen, eine leichte Unschärfe ist zu verzeichnen. Die Frau hält einen Strauss heller Blumen in Händen. Zwischen Mann und der Frau wartet ein Kind, das Kind greift fest nach der Hand der Frau. Fässer liegen herum, auch Tonnen von rostigem Eisen, teilweise beschädigt. An einem Zaun lungern zwei Jungen, hinter dem Zaun arbeitet ein Mann. Auf der Fotografie ist kein Baum zu sehen, vielleicht weil auf der Insel niemals Bäume existierten. Aber Gerüste von Holz zur Trocknung von Fischen, karg, sehr karg. Ich überlegte, was sie dort wohl tun im Norden auf dieser Insel. Plötzlich dachte ich: Sie tun nichts weiter, als zu leben.
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Des Weiteren im Zimmer: Zwei Paar Schneeschuhe, sie warten neben einem Petroleumofen, der kalt ist. Auf einem Tischchen ruhen ein Transistorradio, außerdem eine kleine Funkstation mit Mikrophon und einige zerfranste Hefte, und Bleistifte, die lange Zeit in Händen gedreht worden sind. In der Ablage unter dem Tisch finden sich Gläser, Teller, Bestecke, ein Schleifstein. Da ist noch ein Schrank, im Schrank sorgfältig gestapelt Hemden und Handschuhe eines Mannes, Fäustlinge von kräftigem Leder, wenn nicht das Radio wäre und das Funkgerät, möchte ich meinen mich in einem Museum aufzuhalten. Das Kind, welches auf der Fotografie zu sehen ist, wird vermutlich längst gestorben sein. Vielleicht ist es einmal in dieses Zimmer getreten, das ist denkbar. Das Zimmer ist meine Zuflucht und Werkstatt für ein oder zwei Monate Zeit.
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15. DEZEMBER — 22:12 UTC / Wind, der durch die Fugen des Hauses pfeift. Noch nie bin ich so weit im Norden gewesen. Ich könnte mich in diesem Augenblick, da ich zu notieren beginne, in der Stadt Uummannaq befinden, wenige Meter über dem Meeresspiegel in Höhe 80 vielleicht. Es ist Abend, stockfinster draußen vor den Fenstern, auch als ich gegen Mittag zu aus dem Schlaf erwachte, war es stockfinster gewesen, Polarnachtdunkelheit, nur ein helles einsames Leuchten in größerer Entfernung draußen auf dem Fjord. Still sitz ich auf einer hölzernen Bank und notiere im Licht der Stirnlampe von Hand in mein Notizbuch. Noch immer ist es warm, eine wunderbare Wärme, die mich wie ein Mantel umhüllt, seit wir in der Nacht eingetroffen sind in Uummannaq, ein seltsames Wort, Uummannaq, das ich langsam buchstabierend aussprechen, aber nicht zu merken vermag. 14 Stunden Fahrt nach Hubschrauberflug zunächst auf einem Hundeschlitten von Sarqaq durch die Dunkelheit über das vereiste Meer. Eine Spur, ich erinnere mich, war zu erkennen gewesen auf dem Eis, als wären weitere Menschen vor uns bereits genau auf dieser Route gefahren.
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Ein Mann stand hinter mir auf dem Schlitten, ich selbst hockte auf einer Matte, meine Beine waren von Fellen bedeckt. Das Licht unserer Kopflampen, wie herumirrendes Radarlicht. Die Hunde vor uns eilten fast lautlos dahin, ein helles Rauschen von den Kufen der Schlitten her, harter Schnee flog durch die Luft, welcher von den Pfoten der Tiere in die Luft gewirbelt wurde. Es war keine Zeit zu sprechen während der Fahrt Stunde um Stunde durch das Schneegestöber. Zwei oder drei Male hielten wir an. Der kleine Mann, der den Schlitten lenkte, wagte sich vor auf das Eis, indessen kauerten seine Hunde auf ihren Hinterbeinen und schauten ihm konzentriert und ohne auch nur einmal den Blick von ihm zu nehmen hinterher. Bald war nur noch das Licht auf seinem Kopf sichtbar, ein scheinbar körperloses Licht in der Dunkelheit. Nach wenigen Minuten kam der Mann zurück, hockte sich auf seine Bärenfellschuhe, entblößte seine Hände, und legte sie auf das Eis, als würde er nach etwas tasten. Er sagte, kaum Weiteres war von ihm bis dahin zu hören gewesen, das Eis sei unsicher geworden, nichts fürchte er so sehr wie Eis, das nicht zuverlässig trage. Als unsere Fahrt nach vielen Stunden endlich endete, durchsuchte mich der Mann, meine Jacke, meine Hose, meine Schuhe, auch mein Gepäck, und verschwand in der Dunkelheit. — Seit 15 Stunden bin ich nun allein. Ich warte.
Position Grönland. Ein Punkt dort wo
sich die dramatische Geschichte
zur Polarnachtzeit ereignete.
Noe Moritz Pape berichtet.
16. DEZEMBER — 0 :12 UTC / Was sich zu diesem Zeitpunkt notieren lässt, ist folgendes: Ich verfüge über keinen Strom, aber das Zimmer, in dem ich mich befinde, ist warm. Das Haus wird vermutlich von einem einheimischen Jäger bewohnt, das ist denkbar, der Jäger scheint abwesend zu sein, vielleicht ist er während der Polarnachtzeit nie an diesem Ort. Ich sitze auf einem Stuhl und warte und notiere. In einer Ecke des Zimmers, schemenhaft, der Lauf eines Gewehrs. Nah eines Schrankes, den ich bereits gründlich durchsuchte, führen in Fels gehauene Stufen in einen kühlen Raum, dort lagern getrocknetes Fleisch und Fisch, Gaskartuschen, Rosmarin, Öle und ein Salzfässchen in Regalen, auch Wasser in Flaschen. Eine halbe Stunde lang suchte ich vergeblich nach Munition für das Gewehr. Ich trat vor das Haus, es war absolut still, nicht einmal der Wind, der im Haus noch zu hören gewesen war, gab Laut. Es war, als ob die Welt an diesem Ort die Luft anhielt, als ob man besondere Stille probte. Auch von einem grellen Licht her, das auf dem Fjord unter mir in großer Entfernung flimmernd leuchtete, war nichts zu hören. Ich meinte dort unten undeutlich Bewegungen zu erkennen. Kaum wagte ich vor dem Haus stehend zu atmen, hatte ich doch kurz vor meiner Abreise Anweisung erhalten, mich absolut still zu verhalten: Kein Laut außerhalb des Hauses: Rufen Sie nicht!
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16. DEZEMBER — 4:28 UTC / Vor wenigen Minuten war ein leichtes Erdbeben zu spüren, ein Zittern, wenig später, ich war zunächst wieder eingeschlafen, eine schlingernde Bewegung, als würde das Haus langsam über die Felsen der Insel wandern. Ich hatte zunächst gedacht, mich geirrt zu haben, da sich die seltsame Bewegung weitere zwei Male wiederholte, verzeichne ich nun: Die Erde unter meinen Füßen bebte. Die Scheiben der Fenster klirrten, und das Bett, auf dem ich nach meiner Ankunft bereits erschöpft eingeschlafen war, hatte sich leicht von der Wand fortbewegt. In diesem Moment, da ich auf dem Boden sitzend in mein Notizbuch notiere, steigt vom Fjord eine rot glühende Signalfackel in den Himmel, schwebt lange Zeit am Himmel, leuchtet hinüber zu einem Bergrücken, der bisher für mich unsichtbar gewesen war, sinkt langsam, als wäre sie an einem Fallschirm befestigt, wieder gegen den Boden zu, ein Licht ohne Laut. Ich stand kurz vor dem Haus. Die Luft flimmert.
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16. DEZEMBER — 6:28 UTC / Unruhige Nacht. Zwei Stunden geschlafen, dann immer wieder wach, das Haus knistert. Vom Bett aus beobachtete ich im Halbschlaf ein kleines Tier, das den Raum durchquerte, dann wieder Signalleuchten, das Tier hastete unter den Schrank. Kaum war ich am Fenster, stieg ein weiterer Lichtball geräuschlos gegen den Himmel. Eisblumen, die auf den Fensterscheiben gewachsen waren während ich schlief, brachen das Licht, ein wundervoller Anblick. Es scheint sehr kalt geworden zu sein.
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16. DEZEMBER — 8:45 UTC / Seit einer halben Stunde verfüge ich über Strom. Die Lampe an der Decke flackert, als sei noch nicht entschieden, ob sie weiter leuchten wird, auch das Wandlicht nahe der Tür unruhig. Ich war kurz draußen vor der Tür, schaute mich um. Kein Licht, kein Mensch zu sehen, kein Hund, niemand scheint hier zu sein, aber Schemen der umliegenden Berge und Häuser, der Himmel über dem Horizont leuchtet in dunkelstem Blau, keine Wolken, Sterne, wunderbar, und wie ich so in den Himmel spähe, bemerkte ich, dass mein Augenlicht nachzulassen scheint, Unschärfe zu den Rändern meines Blickfeldes hin. Unten auf dem Fjord, das Eis hell erleuchtet. Es kommt mir so vor, als habe sich das Licht genähert, als wäre die Luft klarer als gestern noch. Scheinwerfer, wie riesenhafte Lichtblumen da und dort. Wieder meinte ich Schatten von Menschen zu erkennen, flimmernde Strukturen, die sich wie unter Gläsern eines Mikroskops bewegten. Spuren von Schlittenkufen führen aus dem Lichtkegel ins Dunkel in Richtung der kleinen Stadt auf den Felsen. Vor meinem Haus steigen aus der Dunkelheit hölzerne Treppen, hinter dem Haus steigen sie weiter. Ein steiles Gebiet, kaum Schnee auf den Felsen, leichter Wind, Schnee jedoch auf dem Dach und an einer Seite des Hauses hoch. Das Holz des Hauses, feuerrot, das ist denkbar. Vielleicht ‑10 °Celsius, schwer zu sagen, es ist kalt.
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16. DEZEMBER — 12:02 UTC / Ich warte, gehe auf und ab, schaue aus dem Fenster. Es ist Mittag. Ich prüfte meine Uhr, ich habe meine Uhr vor der Abreise auf Weltzeit eingestellt. Ich habe mir außerdem vorgenommen, zu schlafen, wenn Nachtzeit ist ab 23 Uhr. Aufstehen will ich um 7 Uhr in der Früh, nur nicht meinen Rhythmus verlieren. Stockfisch und Wal zum Frühstück, gesalzen, geräuchert. Es ist nicht mein Haus, dachte ich, als ich im Hause neugierig zu suchen begann. Ich nahm ein Buch aus dem Regal und ein Blatt Papier vom Tisch. Ich öffnete einen Schrank auf der Suche nach Papieren, ich öffnete eine Schublade auf der Suche nach Stiftwerkzeugen. Da war auf einem Blatt Papier die Schrift eines Mannes, zu dem dieses Zimmer gehören mag, exakt gezeichnete Wörter in lateinischen Buchstaben, unbekannte Wörter. Eine Schneebrille aus Knochen eines Tieres gearbeitet, wer könnte sie angefertigt haben? Getrocknete Blumen da und dort, die von der Decke baumeln, Fingerkraut, wilde Rosen und Blaubeeren, auch Haken und Netze, Harpunen von uraltem Holz mit knöchernen Spitzen, eine Sammlung von Fotografien in einer Schachtel, die ich unter meinem Schlittenbett entdeckte. Es ist nicht dein Haus, dachte ich, und schaute doch in die Schachtel hinein, legte Fotografien auf den Tisch, es ist als würde plötzlich Licht vor den Fenstern aufgehen, so könnte die Welt um mich herum beschaffen sein, Häuser, das Eis, der Schnee, Blumen, Gräser, Schlitten, Menschen, Wale.
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16. DEZEMBER — 17:12 UTC / Abend. Bald zwei Tage sind vergangen, seit ich hier angekommen bin in Uummannaq. Ich suche, ich warte, ich arbeite. Ich arbeite gern in der Vorstellung, ein Mensch, der nicht ich bin, würde mir zusehen, beobachten was ich tue, ich könnte eine Erfindung sein, eine Vorstellung, wie meine Schreibmaschine eine Erfindung und meine Rechenkerne, Bildschirme, Tastaturen, Sensoren, Mikroskope und feinste Lichtfangmaschinen, auch Meißel und Hämmerchen, Lötkolben und Schraubenzieher, wie jene feine Lupe, die zu leuchten vermag. Das alles liegt nun bereit auf dem Tisch in der Mitte des Raumes gleich unter der Deckenlampe. Ich war nahezu blind ohne Elektrizität. Ohne Strom würde ich an diesem Ort vollkommen nutzlos sein. Wie angenehm mein Computer plötzlich summte, wie sein Bildschirm sich erhellte, vertraute Prozesse, und doch, es ist seltsam, keine Verbindung in die digitale Sphäre möglich. Meine Schreibmaschine vor mir auf dem Tisch, ist in diesem Moment tatsächlich nur eine Schreibmaschine mit Gedächtnis, kein Telefon, keine Zeitung, kein Fernsichtgerät, eine Schreibmaschine, die geräuschlos ohne Pause nach weiteren Schreibmaschinen sucht. Bisher kein Kontakt.
Reiseweg in der Nacht
zum 15. Dezember 2018
auf einem Schlitten
von Heliport Saqqaq
über das Eis nach
Uummannaq
16. DEZEMBER — 18:58 UTC / Auf einem Schlitten auf dem Eis eines Fjordes hocken. Angelrute, Stühlchen, Tee und eine Schnur, die im Licht der Sonne glitzert. Die Schnur senkt sich in das Eisloch zu meinen Füßen. Ich habe das Loch von eigener Hand in das Eis getrieben habe, Meerwasser ist sichtbar, dunkles Wasser, Eisschindeln darauf, die sich drehen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie es wäre, in dieser Weise Fisch zu fangen. — Ich sitze vor dem Fenster und sehe hinunter auf den Fjord, noch immer etwas Licht über dem Horizont, ein dunkelblaues Schimmern. Auf dem Eis weiterhin ein Nest von Licht, Bewegung dort, die vor meinen Augen verschwimmt, je länger ich sie festzuhalten suche. Dann stehe ich still im Glühbirnenlicht unter einem Schirm von rotweiß kariertem Stoff. Ich habe noch immer keine eigentliche Vorstellung von der Person, die dieses Haus bewohnen mag. Ein Mann vermutlich, ein Mann ohne Frau.
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16. DEZEMBER — 22:01 UTC / Schnee fällt. Die Luft ist hell von Flocken. Kein Blick möglich hinunter zum Fjord, kein Licht von dort. Der Schnee, weich und warm. Ich erinnere mich, an Geräusche, die der Schnee macht. Der Schnee knurrt, knustert, gurpt, lurpt, gurrt, gnurzt, murrt, drumbt unter den Schuhen, wenn Nacht ist. Der Schnee girrt, lirpt, knirrt, knirzt, knittert, knattert, knistert unter den Schuhen, wenn Tag ist. Es war heut tatsächlich Dunkel von morgens bis abends so wie vorhergesagt dunkel, eine Dunkelheit mit etwas Licht, einem Saum von Licht und einem Farbleuchten, das über das Eis wanderte. Aber jetzt ist es tatsächlich vollständig dunkel da draußen, die Welt könnte unbewohnt sein. Ich werde bald schlafen, in meinem Zimmer ein Geruch streng von auftauendem Fisch. Ich habe im Keller Konserven entdeckt, Leber, auch Marmelade, kaum Brot. Nach wie vor keine Verbindung zu weiteren Schreibmaschinen, das Funkgerät still, aber es leuchtet ein grünes Licht, zweifach war ein Piepsen zu vernehmen, je ein Ton. Ich saß sofort vor dem Mikrofon und überlegte, ob ich etwas äußern sollte: Hier spricht Noe Moritz Pape. Ich befinde mich, das ist denkbar, in Uummannaq. Ich warte, ich notiere, Schnee fällt. Die Luft ist hell von Flocken. Kein Blick möglich hinunter zum Fjord.
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17. DEZEMBER — 2:55 UTC / Plötzlich wach geworden. Stimmen in der Stille. Die Stimmen sprachen die englische Sprache, undeutlich, Wellenfunk. Wie durch ein Blatt Papier gesprochen aus großer Entfernung. Ich hörte Anweisungen und Namen: Ohlson, Kentao, Geraldine. Auch Codes: Hillarystep, Medusenauge, Jennifer.five, Federlibelle, Ishmaelknopf. Ich lag eine Weile wach, erinnerte mich an die Stimmen der Astronauten, wie sie erzählend den Mond umrundeten. Konnte nicht wieder schlafen. Nun sitze ich am Tisch und koche Tee. Selbst über das Kochen kann man hier notieren, nichts scheint selbstverständlich. Ich würde gerne telefonieren. Ich schreibe von Hand, es ist gut, dass ich von Hand schreibe. In einem Moment ohne Strom, habe ich angefangen, von Hand auf Papier zu notieren, und ich werde weiter mit der Hand notieren, falls, das ist vorstellbar, der Strom wieder ausfallen wird. Das Gefühl, ein Kind zu sein, wie ein Kind zu schreiben, ungelenk, ohne jede Übung über viele Jahre hin. — Noch keine Anweisung, meine Arbeit aufzunehmen, kein Funkspruch, kein Bote. Kühler Fisch auf der Zunge, fein, nahezu durchsichtig wie von Eis, wie von Schnee, zunächst kaum eine Wahrnehmung, dann aber, aufflammend, großartiger Geschmack, Gewürze: Wacholderbeeren, Salz, Pfeffer und Wind, und Sonne.
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17. DEZEMBER — 10:22 UTC / Dritter Tag Nord. Präzise Lage meiner Position nach wie vor nicht bekannt. Niemand ist bisher gekommen, um Kontakt aufzunehmen. Ich sollte das Licht ausschalten, sollte nach Licht vor den Fenstern suchen, vielleicht ist das ein oder andere Haus meiner Umgebung doch bemannt, das ist denkbar, und je länger ich in die Dunkelheit spähe, desto intensiver der Eindruck selbst beobachtet zu werden. Sternschimmern heute. Sobald ich das Eis von den Fenstern kratze, wird das Lichtnest auf dem Fjord sehr deutlich sichtbar. Dann wieder starker Schneefall wie ein Tuch, das noch das letzte Licht verhüllt. — Wovon ich noch nicht notierte: Ich bin glücklich, in der vergangenen Nacht schlaflos, habe ich auf der Suche nach Neuigkeiten im Zimmer, ein Fernrohr entdeckt in einem der Schränke hinter Jacken, die nach Öl rochen und Staub. Ich habe geahnt, dass im Haus ein Fernrohr oder ein empfindliches Objektiv zu finden sein könnten. Unter Fotografien, die ich entdeckte, waren Aufnahmen aus großer Entfernung. Der Mann, der dieses Haus zu bewohnen scheint, beobachtet das Meer und die Berge und den Himmel, auch Menschen, die auf dem Fjord mit Kanuschiffen fahren oder Wanderer. Da waren Aufnahmen von Schiffen, die vor der Insel vor Anker lagen, Aufnahmen von Menschen an der Reling, wie sie in die Sonne schauen oder auf das Wasser zeigen. Leider nur ein Fernrohr, kein Fotoapparat, aber ein Stativ. Ich war in dem Moment, da ich das Fernrohr entdeckte, glücklich. Nach wie vor dichtes Schneetreiben. Habe das Fernrohr auf den Fjord hin ausgerichtet. Leichter Nebel. Auch ein schwaches Leuchten vom Eis her, das ich zunächst bereits während der langen Anfahrt über das Eis bemerkte. Ich erinnere mich an meine Müdigkeit, und ich dachte diese Müdigkeit spielte mir Bilder vor, die nicht existierten, pulsierendes Licht, grün und gelb und orange, zarte Farben, als würde das Polarlicht vom Eis zurückgegeben, als würde das Eis über ein Gedächtnis verfügen.
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Sobald ich still sitze, pumpende Geräusche in meinen Ohren. Und das Knistern des Eises auf dem Dach unter dem Schnee. Das Haus scheint zu sprechen, knarzt, auch der Wind scheint zu sprechen. Sobald ich vor die Türe trete, vermag ich das Eis zu hören von unten vom Fjord her, ein dunkles flackerndes Geräusch zu diesem Zeitpunkt. Es ist denkbar, dass ich Geräusche vernehme, die, wie die Wahrnehmung der Farben des Eises, nur in meiner Vorstellung existieren. Dann wieder Stimmen aus dem Funk, manchmal nur ein Satz, nicht jeder Satz verständlich. Die Stimmen wirken besorgt, kurze Kommandos, professionelle Personen, das ist vorstellbar, Anatomen, Forensiker, Kriminalisten, Polarforscher, alle dort unten in dieser Lichtnuss geborgen seit fünf oder sechs Tagen rund um die Uhr. Das Eis, hörte ich, soll an Stärke wieder zugenommen haben, kaum Risse. Ich warte.