Vorsichtig sondiert Noe Moritz Pape
seine nächste Umgebung. Er fertigt
Zeichnungen eines Walkörpers, so wie
er Jennifer.five mit eigenen Augen
wahrgenommen haben will.
19. DEZEMBER — 10.22 UTC / Früher Vormittag. Seit wenigen Minuten schwebt eine Drohne vor meinem Fenster, blickt in mein helles Zimmer, Satellit, das ist denkbar, einer künstlichen Sonne, die noch immer beständig das Fjordeis beleuchtet. Ich werde beobachtet, wie ich hier sitze und in ein Notizbuch schreibe.
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19. DEZEMBER — 15.28 UTC / Erneut wandern Bären über das Eis, nähern sich nun ringförmig der Bergungsstelle, von weither scheinen sie zu kommen, wie verabredet, als könnten sie miteinander telefonieren. Sie sind derart zahlreich geworden, dass sie das Lager der Forscher sofort einnehmen könnten. Immer wieder weichen sie zurück, springen vom Eis hoch in die Luft, scheinen verunsichert zu sein, verschwinden für eine Weile in der Dunkelheit, um dann wieder heranzukommen. Ihre leuchtenden Augen, wenn ich das Fernrohr in die Dunkelheit richte, sehr seltsam. Der lockende Duft des verendeten Wals auf dem Eis, das ist denkbar, und Menschen, langsame Wesen, da und dort Kämpfe, sie greifen einander an, auch junge Eisbären sind gekommen im Schatten ihrer Mütter.
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19. DEZEMBER — 18.08 UTC / Löschte das Licht, um in die Dunkelheit zu spähen. Ein weiteres Nest nun von Dunkelheit, wie in allen Häusern an den Berghängen, Nester von Dunkelheit, verlassen oder nicht. — Zum ersten Mal, seit ich denken kann, habe ich den Eindruck, das Schreiben von Hand sei sicherer als das Schreiben mit einer elektrischen Schreibmaschine, niemand wird aus der Ferne in der Lage sein zu lesen, was ich von Hand notiere. Ich bin geschmeidig geworden in der Arbeit handschriftlichen Notierens. Ich beobachte meine schreibenden Hände. Meine Reise in den Norden lehrt mich das Schreiben von Hand, und wie sich das Denken verändert, wenn ich mit Händen schreibe mit einem Bleistift und nicht auf einer Tastatur. Sobald ich sage: Meine schreibenden Hände, spreche ich von Händen, die ich lange Zeit nicht wahrgenommen habe. Von Dunkelheit umgeben vermag ich sehr gut zu denken. Es ist sehr seltsam in diesem Zimmer zu sitzen in der Nähe der Hände eines Mannes, dessen Stimme ich höre, dessen gesprochene Wörter, die ich in Schrift übertrage, so sorgfältig es mir möglich ist. Ich werde Joe Ellis Hände mit mir nehmen, ich werde sie bestatten.
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19. DEZEMBER — 22.17 UTC / Habe einen Spaziergang unternommen, dann einen weiteren Spaziergang, Exkursionen in meine nächste Nähe. Ich stieg wenige Meter aufwärts. Einige Stufen waren morsch. Der Schnee fein wie Sand, ein leichter Wind ging, der den Schnee bewegte, Wirbel bildete und kleinere Lawinen löste. Helles Steinwerk da und dort, feuerrot, auch blau von Flechten, die sich in der eisigen Windkälte wohl zu fühlen scheinen. Links und rechts der Steige, lagerten Stahlfässer und Planken von Schiffen. Da war ein Röhrenfernsehgerät, Bildschirm zerbrochen, ein Fahrrad und ein Kinderwagen. Ich bemerkte, dass ich meine Orientierung verlieren könnte und kehrte zurück. Ich stieg abwärts, es war ein langer Abstieg, kein weiteres Haus als ein Haus, das ich bereits im Licht der Signalfackeln wahrgenommen hatte. Eine sehr steile Treppe, ich stieg weiter und erreichte die Fläche des Fjordeises, tiefer Schnee dort, Wehen, die sich meterhoch türmten. Der Wind hatte meine eigenen Spuren längst von den Holzbohlen gefegt. Ich könnte an diesem Ort spurlos verschwinden, das ist denkbar, ein tiefgefrorener Zeuge werden.
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20. DEZEMBER — 6.55 UTC / Bewegung an diesem Morgen draußen vor dem Fenster auf dem Fensterbrett. Ich beobachtete Eiskäfer, blau und grün und schneeweiß, tatsächlich scheinbar vollkommen von Eis, bewegten sich die Käfer flink, wunderbare Erfindungen in der Gestalt mitteleuropäischer Pillendreher. Die Käfer drehten kugelförmige Gebilde von feinsten Gräsern und Stäuben, Kunststofffasern, die der Wind heranschleppte, Petroleum, Asche, Knochen, all das für einen Käfer im Schnee auffindbare Material, das nicht von gefrorenem Wasser ist. Ich habe noch weitere seltsame Dinge geträumt.
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20. DEZEMBER — 9.33 UTC / Wieder ohne Strom. Fallende Temperatur im Zimmer, sehr plötzlich. Es ist stockfinster, der Himmel bedeckt, kein Schneefall. Auch das Licht auf dem Fjord ist nahezu unsichtbar. Nur ein Nachleuchten in meinen Augen, vielleicht weil ich tagelang durch die Linse meines Fernrohres starrte. Stirnlampen zahlreicher Menschen undeutlich, die sich zu Gruppen versammelten. Sonst keinerlei Licht über dem Eis, aber ein sehr schwaches Leuchten, das durch das Eis selbst zu dringen scheint, orange und grün und blau, als würden Wolken kleinster Lichtteilchen sich unter dem Eis bewegen, sich mit Licht infizieren, das ist denkbar, oder Meerwalnüsse, die vom Süden in den Norden ziehen.
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20. DEZEMBER — 12.05 UTC / Es wird immer kälter. Ich mache mir Sorgen. Dunkelblaues Leuchten über den Bergen jenseits des Fjordes, sanft. Der Schnee scheint während der vergangenen Nacht von heftigen Winden davon gefegt worden zu sein, Fäden gefangener Luft ziehen sich längs über den Fjord durch das Eis, kaum sichtbar im Licht der Dämmerung. Auch sind Spalten und Risse zu erkennen, die Umrisse eines Bergrückens jenseits des Fjordes, so undeutlich, dass meine Augen ihn erfunden haben könnten. Eine Karawane von Stirnlichtern bewegt sich abwärts zum Fjord hin. Keine Eisbären, sehr seltsam, alle sind verschwunden, trotz bester Bedingungen zur Jagd. Denkbar, dass sie noch in der Nähe sind, nicht länger auf dem Eis, aber vielleicht auf dem Festland, auch vielleicht auf der Insel. Bald wird es wieder stockfinster geworden sein. Ich habe meine Handschuhe präpariert, ihre Spitzen entfernt, mit klammen Finger notiere ich, kaue auf etwas Fett herum, das beruhigt, das beruhigt nicht wirklich gründlich.
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20. DEZEMBER — 17.03 UTC / Seit einer Stunde wieder Licht, es wird wärmer im Haus. Auch auf den Fjord ist das Licht zurückgekehrt, Licht, das kräftiger zu sein scheint als je zuvor. Großartige Lichtblumen blühen über dem Kadaver des Wals. Menschen gleiten über das Eis dahin als, als trügen sie Schlittschuhe. Ich habe den Eindruck, die Zahl der Menschen in der Umgebung des Kadavers nimmt zu. Leitern lehnen da und dort an den hoch aufragenden Körperwänden, man scheint nach Zugängen zu suchen, Haut wurde entfernt. Menschen ziehen mit aller Kraft in größeren Gruppen an Seilen, die Haut des Wales löst sich tatsächlich, steife, schalenförmige Gebilde gleiten oder fallen auf das Eis und das Fleisch des Wales tritt dunkel zutage. Auch auf der nicht sichtbaren Seite des Walkörpers scheint gearbeitet zu werden. Unter dem Eis gleiten helle Schatten hin und her, Schatten, die einmal ostwärts, dann wieder westwärts sich kreisend bewegen, mächtige Tiere.
Entwurf : Jennifer. five nach einer Zeichnung
die von Noe Moritz Pape in seinem Notizbuch
mittels Bleistift angefertigt
wurde.
21. DEZEMBER — 4.15 UTC / Transkription der Berichte Joe Ellis abgeschlossen. Ich hörte letzte Sätze, welchen keine weiteren Sätze folgten. Das Magnetband scheint ohne nachfolgende Information zu sein, läuft stumm und stetig vor sich hin. Stille, kein Wort, auch kein Meeresgeräusch. Aber ein Sturm, ein neuer Sturm, als wäre er gerade wie aus dem Nichts erfunden, tost um das Haus. Schnee fällt und der Wind pfeift über das Dach, als würde er üben. Mein Notebook mit meiner Transkription der Berichte Joe Ellis ruht noch immer auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers. Nach einer Stunde Magnetbandstille, habe ich das Signal gesendet, dass ich meine Arbeit beendet habe. Ich weiß nicht, ob man mich wahrnehmen wird. Ich warte.
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21. DEZEMBER — 11.06 UTC / Ich war eingeschlafen. Ohne es bemerkt zu haben, wurde ich schläfrig. Träumte Elefanten, wie sie über Eis wanderten, eine Reihe von Elefanten, ein Elefant hielt einen weiteren Elefanten an seinem Schwanz, und so schritten sie gemächlich über den tiefgefrorenen Fjord. Sie waren zierlich, ihrer Erscheinung vor der Silhouette eines riesigen auf dem Eis liegenden Wales. Sie leuchteten in Blau und Rot, ein wunderbares Bild, ein Mann schritt vor ihnen her, schien sie zu führen, kein Laut, aber das Knistern und Grollen des Eises. — Der Funk ist zurückgekehrt. Spärliche Nachrichten aus nächster Nähe, es bleibe nicht mehr viel Zeit, das Eis bewege sich, Sturm weit draußen auf dem Meer. Auch sind wieder Stimmen zu vernehmen von der Sonde unter dem Eis, vermutlich Geräusche des Eises, aber auch Stimmen der Wale, die unter dem Fjordeis kreisen, freundliche Stimmen. Welch wunderbare Vorstellung dort unten in der Dunkelheit in einem Taucheranzug Luft perlend vor einem Wal zu schweben und zu warten und zu wissen, dass er gleich, nach ein wenig Denkzeit, entweder mich verzehren oder zu mir sprechen wird. Etwas also sagen oder singen, das nur für mich bestimmt ist. Vielleicht eine Frage: Wie heißt Du, mein Freund? Oder: Ich hörte von Bäumen!
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21. DEZEMBER — 14.37 UTC / Noch keine Stunde ist vergangen, seit ich im Lichtschein meines Fensters einen Hund bemerkte, der wild im Schnee grub. Er sah mich kurz an, dann machte er weiter. Ich dachte, er baue vielleicht ein Schneenest, um zu schlafen, aber der Hunde legte sich nicht nieder, er schien vielmehr nach etwas zu suchen. Einmal hob er seinen Kopf in die Luft und heulte wie ein Wolf. Sofort leuchtete ein starker Scheinwerfer vom Fjords aus in Richtung des Dorfes, tastete sich suchend von Haus zu Haus. Ich meinte im grellen Licht Farben der hölzernen Hauswände zu erkennen, gelb, grün, orange, blau und rot. Auch dutzende Kanister und Seile, an welchen gefrorene Fischkörper im Wind flatterten, sie hatten sich nahezu aufgelöst, waren in Teilen davon geflogen, da und dort Planen, von Steinen beschwert, auch zwei kleine Boote auf dem Kopf. Ruhig streifte der Lichtfinger Minute um Minute hin und her..
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21. DEZEMBER — 20.14 UTC / Der Funk berichtet, Spalten seien sichtbar geworden. Auch berührten Rücken der kreisenden Wale die Unterfläche des Eises. Habe Joe Ellis Tonaufnahmegerät in Folien luftdicht verpackt, wie seine Hände. Schutzkleidung ist vorbereitet, Werkzeuge und Notebook sind verstaut, ich könnte jederzeit aufbrechen.
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22. DEZEMBER — 8.21 UTC / Schweißnass erwacht. Licht vor dem westlichen Fenster. Zwei Personen näherten sich, Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Sie dampften aus dem Mund, bewegten sich langsam, untersuchten jede einzelne Stufe der Treppe, fuhren mit Sensoren über das Holz und die Steine. Sie kamen bald näher heran, bemerkten, dass ich sie beobachtete, schauten mich freundlich an, untersuchten nun auch das Mauerwerk meines Hauses, Türen und Fensterrahmen. Eine weitere Stunde waren sie zu sehen, das Licht ihrer Lampen. — Tosender Wind wieder seit einigen Minuten. Der Wind kam sehr plötzlich, zerrte am Haus und fegte Schnee gegen das Fenster zum Fjord. Kein Blick möglich zu diesem Zeitpunkt. Kein Licht aus der Tiefe unter mir. Dann plötzlich wieder Stille. Klare Luft. Über den Rücken des Wales, der weithin seine Haut verlor, laufen Menschen, Lawinen sausen über das gefrorene Fleisch, eine Seilwinde, die gestern nahe des Kadavers im Eis verschraubt worden war, ist verschwunden. Habe eine Suppe gekocht, eine Suppe früh am Morgen, es riecht streng im Zimmer, auch von mir selbst.
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22. DEZEMBER — 12.01 UTC / Dampf steigt auf, schwere Wolken weißen Dampfes, die wenige Meter über dem Wal sich in Eisgraupel zu verwandeln scheinen. Mehrfach näherten sich Schlitten der Bergungsstelle, sie kamen, von Menschen gezogen, aus der Dunkelheit. 16° Celsius unter null. Vor dem Haus stehend, vernehme ich vom Fjord her nicht ein einziges Geräusch, ein Labor voller Licht, aber ohne Geräusch, Stummfilmszenen. Vor diesen Bildern stehend, möchte ich meinen, taub geworden zu sein. Wieder großartige Lichtspiele am Himmel, die die Landschaft beleuchten, auch Häuser meiner Nachbarschaft, einen Berg von Schuhen etwas weiter rechts, den Turm einer Kirche, einige Fässer, verrostet, und Schlitten, gestapelt, geborstene Kufen, alles, als wäre es bemalt von den Farben des Himmels, die über die Felsen, den Schnee, die Häuser, über das Eis des Fjordes wandern, als wären sie Millionen leuchtender Pigmentameisen, die der Dunkelheit widersprechen.
Walgespräche
aufgenommen nahe
Grönland.
22. DEZEMBER — 15.12 UTC / Plötzlich war der Hund wieder da. Ich hörte zunächst, wie er an der Tür schnüffelte, ein Kratzen, ich sah aus dem Fenster, öffnete die Tür und der Hund kam herein. Der Hund war verletzt, ein schneeweißer Husky, der sich unter den Tisch legte, und sofort einzuschlafen schien. Ich suchte nach Pflastern, entdeckte eine Blechbox mit Fischködern, getrocknete Libellen, die ihre schillernden hauchzarten Flügel über eiserne Haken falteten. Zwei Stunden später schlich sich der Hund davon.
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23. DEZEMBER — 0.12 UTC / Ich warte. Sitze Stunde um Stunde am Fenster und schaue gegen den Himmel. Zweimal schlief ich ein. Ich schlief nur kurze Zeit. Weiterhin Schatten der kreisenden Wale unter dem Eis, Funkstimmen spärlich, Stimmen, die vom Wetter berichten, auch Namen, die aufgerufen werden, Stimmen junger Männer und Frauen, die sich, das ist denkbar, gegenseitig ihrer Gegenwart vergewissern, als könnten sie jederzeit verschwunden sein. Berge gefrorenen Walfleisches türmen sich auf dem Eis.
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23. DEZEMBER — 2.12 UTC / Es ist inmitten der Nacht, ein Zeitort, da ich eigentlich zu schlafen wünschte. Sobald ich mich selbst befrage, bemerke ich, dass ich mich zu fürchten beginne. Noch immer erhalte ich keine Meldung, ob meine Arbeit für gut befunden wurde. Ich habe einen ersten Bleistift zu Ende geschrieben, ich beginne nun mit einem zweiten Bleistift, ich habe einen dritten Bleistift, über einen vierten Bleistift verfüge ich nicht. Ich fürchte, bald wird das elektrische Licht wieder verschwinden, und auch die Wärme.
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23. DEZEMBER — 5.27 UTC / Hörte Flossen auf Stein und Holz. Ein Geräusch, das ich nicht erklären konnte, Geräusche, als würde ein Vogelschwarm wieder und wieder gegen den Himmel steigen, tausende flatternder Tauben. Was ich hörte, waren fliehende Robben, hunderte, die sich im Fjord vielleicht in Ufernähe versammelten hatten. Sie flohen ins Dorf, ein Robbenschwarm, leuchtende Augen. Sie kämpften sich über Treppen aufwärts, wie von Schnee gepudert, dampften, umfluteten krächzend und hupend das Haus, um weiter hinaufzusteigen. Kurz darauf kamen sie zurück, stürzten, eine Woge grauer Körper über Treppen und Felsen, überschlugen sich, schnappten nach Luft, gaben leise röhrende Laute von sich, die schmerzten, diese Verzweiflung.
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23. DEZEMBER — 9.06 UTC / Früher Morgen, Eisbären nähern sich. Hunderte Eisbären, wie mir scheint, kommen vom offenen Meer kämpfend heran. Auch scheinen sie sich nicht nur für die Bergungsstelle auf dem Eis zu interessieren, sondern auch für das Dorf, sind kaum weiter als ein oder zwei Kilometer entfernt. Ich habe in Panik nach Munition gesucht für das Gewehr in meinem Zimmer, zunächst vergeblich. Ich war hinüber zum Nachbarhaus gekrochen und durchsuchte im Licht meiner Stirnlampe Zimmer für Zimmer. In der Küche hinter Konserven entdeckte ich Waffen, eine Signalpistole, Patronen.
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23. DEZEMBER — 10.08 UTC / Wieder habe ich eine Erkundung meiner nächsten Nähe unternommen. Ich bin unter dem Eindruck mangelnden Schlafes vielleicht mutig geworden, stieg einige Meter aufwärts. Im Licht meiner Stirnlampe Stufen einer Treppe, zahlreiche Stufen sind zerborsten, Fässer und Planken liegen über das felsige Gelände verteilt. Da waren drei tote Robben, tiefgefrorene Augen, schwere Tiere, ich bewegte mich gebückt, jederzeit bereit eine Signalfackel zu zünden, jederzeit bereit zu flüchten.
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23. DEZEMBER — 14.58 UTC / Zwei Stunden lang arbeitete ich konzentriert an der Vorstellung, dieses Haus, dieses Dorf, diesen Fjord sofort zu verlassen. Ich könnte zum Meer hin absteigen, dachte ich, könnte versuchen in der Dunkelheit den Fjord zu überqueren. Ich besitze einen Rucksack voll Walfleisch und getrocknetem Dorsch, zwei Behälter Wasser, außerdem eine Eisbärenfellhose, Joe Ellis Hände und sein Tonaufnahmegerät, mein Notizbuch und zwei Bleistifte. Ich erwarte den Moment, da ich spüren werde, dass ich aufzubrechen habe. In der Dämmerzone des künstlichen Lichts unter mir spielen Bären. Auf dem Eis, in unmittelbarer Nähe des Kadavers, ruht das Herz eines Wales.
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23. DEZEMBER — 22.12 UTC / Der Schuss hallte weithin über das Eis, brach sich an den Felsen des gegenüberliegenden Landes, und kehrte wieder zurück. Ein wunderbares hellblaues Licht stieg über mir auf, das den Fjord weithin erhellte. Der Eisbär, er war dicht an das Haus herangekommen, hatte sich vor mir hoch aufgerichtet, er gab einen tiefen röhrenden Ton von sich und sprang mit einem Satz in die Dunkelheit zurück. Der Donner, den ich ausgelöst hatte in meiner Not, war noch zu hören als der Eisbär längst verschwunden gewesen war. Zitternd kehrte ich in das Haus zurück. Im Funk aufgeregte Stimmen, Rufe, Fragen, Flüche. Es ist nun folgendes tragischerweise zu berichten: Das Eis nahe des Walkadavers war geborsten, der Kopf eines Wales ragte aus dem Wasser. Kurz darauf erschien im Norden, weit von der Bergungsstelle entfernt, ein weiterer Wal, der mit hoher Geschwindigkeit über das Eis hin rutschte, er brach ein, um erneut an derselben Stelle anzugreifen, ein Fiasko, ein Inferno, dem ich beiwohnen durfte. Ich beobachtete Menschen, wie sie über das Eis flüchteten, Funkgeräusche brachen ab. Auch wurden Bergungszelte ins dunkle Wasser gerissen und verschwanden in riesigen Mäulern. Ich zählte acht oder neun Angreifer. Dann wurde es still, das Eis war weithin aufgebrochen, eine riesige dunkle Fläche. Ich stand ganz still, das Auge ohne Unterbrechung an das Fernrohr gepresst, kaum noch Licht. Ein Mann torkelte an meinem Haus vorbei, ein Arm war abgerissen, er blutete. Das Licht im Haus erlosch.
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23. DEZEMBER — 3.15 UTC / Funkstille, nicht einmal Knistern oder Pfeifen. Kalt ist es geworden und wird immer kälter. Ich reibe mir die Hände, gehe auf und ab. Ich werde bald aufbrechen nach Südwesten. Ich werde das Eis überqueren zum Festland hin. Ich werde mich fürchten. Ich fürchte mich bereits in diesen Minuten in unbekannter Weise. Vor etwa zwei Stunden sind Drohnenvögel zurückgekehrt, schweben über dem Fjord, beleuchten suchend das Eis, das geschlossen ist, kein Mensch, kein Gegenstand zu sehen. Es ist als wäre nie etwas dort gewesen. Weder Menschen, noch Eisbären, noch Wale. Ich habe vergeblich Zeichen gegeben. Ich werde nun das Haus verlassen. Es ist der 24. Dezember kurz nach Mitternacht. Im Licht meiner Kopflampe notiere ich in mein Notizheft. Ich werde meine Aufzeichnungen zurücklassen. Vielleicht werde ich zurückkehren, weil ich keinen Ausweg finde, das ist denkbar, dann werde ich weiter schreiben. Ich hoffe, dass ich weiterschreiben werde. Ich spüre wie es kälter wird. Vor den Fenstern nun absolute Dunkelheit. Ich breche auf, leblose Schreibmaschinen, Joe Ellis Tonaufnahmemaschine und seine Hände im Gepäck. Ich werde, solange möglich, auf Notizzetteln notieren, die ich dem Wind übergebe. Noe Moritz Pape, 24. Dezember 2018
/ Diese Zeilen wurden
in Uummannaq entdeckt.