Noe Moritz Pape erlebt Polarnachtdunkelheit
in Uummannaq. Er träumt von Eisbären
und beginnt mit der Untersuchung der
Aufzeichnungen des Reisejournalisten
Joe Ellis.
17. DEZEMBER — 16:33 UTC / Kurz war ich eingeschlafen, träumte Eisbären, die mir Sorgen bereiten, nicht die Kälte, nicht die Dunkelheit, nicht das Warten, aber Eisbären, ich wäre wehrlos, ich würde verschwinden. Ich wachte auf. Eine Stille in diesem Augenblick wie ich sie nie zuvor hörte. Ich trat vor die Tür. Es war kalt geworden. Der Himmel ist jetzt wolkenlos. Mond steht über einem Bergrücken jenseits des vereisten Fjordes. Die Luft klar. Der Lichtkern auf dem Eis sehr deutlich zu erkennen. Wie eine Walnuss in der Ferne, scharf begrenzt, als würde das Licht in der Kälte eine präzise vorbestimmte Strecke weit durch den Äther fliegen, um jäh zu enden. Kaum Funk.
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17. DEZEMBER — 17.16 UTC / Der Wind zeichnet in den Schnee, Furchen und Kanten, da und dort das Gestein der Insel, frei und grau, und Flechten, die trotz Kälte zu leben scheinen. Das Holz der Treppen, die vom Haus in die Dunkelheit führen, scheint frisch zu sein, steile Treppen, solide mit dem Boden verbunden, ich würde mich diesen Treppen, wenn ich mich frei bewegen könnte, anvertrauen. Es ist noch immer kalt, es ist, nehme ich an, so kalt, wie ich es noch nie erlebte, die Luft ganz klar. Seit bald einer Stunde beobachte ich das Licht auf dem Fjord durch das Fernrohr, großartige Aussicht. Zwei Dutzend Kuppelzelte. Ich vermag Menschen zu erkennen, wie sie sich vorsichtig über das Eis bewegen. Keine Hunde. Zelte und Menschen in der Nähe eines riesigen Körpers. Ein Walfisch ruht dort unten, ein Wesen von enormen Ausmaßen, nicht groß wie ein Haus, bedeutend größer als ein Haus, groß wie ein Schiff, wie ein sehr großes Schiff. Die Schwanzflosse des Wals ruht flach auf dem Eis, Menschen bewegen sich dort über die Flosse des Wals hin als würden sie einen Strand spazieren. Sie tragen helle Monturen und rote Armbinden und Kopfhörer, vielleicht weil sie über Funk zueinander sprechen, das ist denkbar. Die Zelte scheinen auf hölzernem Grund errichtet, auf Schiffen oder Flößen. Auch spazieren Menschen auf dem Rücken des Wals, andere seilen sich über den glitzernden Körper abwärts. Eine Leiter lehnt vom Eis her senkrecht an dem Körper, der gefroren zu sein scheint. Auf halber Höhe arbeiten Menschen, ich habe den Verdacht, dass sie einen Zugang suchen in den Körper des Wals. Dort steigt Rauch auf oder Dampf, ein Mann rührt in der Nähe des Walmundes in einem Kessel, etwas entfernt liegen zwei Personen auf dem Eis, sie scheinen zu schlafen oder zu lauschen.
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17. DEZEMBER — 18.22 UTC / Abend. Noch immer warte ich. Erinnerte ein Buch. Das Buch erzählt von unsichtbaren Städten, auch von der Stadt Bauci, die hoch über einer Waldlandschaft auf Stelzen wie auf Flamingobeinen ruht. Die Bewohner der Stadt beobachteten die Welt weit unter ihnen mit großem Interesse, jedes kleinste Detail, liebevoll, Ameisen, Blätter, insbesondere auch ihre persönliche Abwesenheit. Ich dachte, ich selbst könnte mich in diesem Augenblick in einer polaren Stadt Bauci in der Dunkelheit befinden. Wie ich die Welt dort unten auf dem Wasser auf dem Eis mit Neugier von der Anhöhe aus betrachte, in dem stetigen Verdacht, dass ich selbst unter Beobachtung stehe. Auch immer wieder der Eindruck, in einem der nahen oder fernen Häuser könnten sich eine oder mehrere Personen befinden, das ist denkbar.
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17. DEZEMBER — 22.01 UTC / Etwas Außerordentliches ist geschehen. Vor wenigen Minuten wurde ich besucht. Ein Mann, der im Fenster plötzlich sichtbar wurde, wird vielleicht noch immer in meiner Nähe sein. Beobachtet, wie ich in diesem Augenblick sein plötzliches Erscheinen verzeichne, denkt, dass ich nur deshalb schreibe, um so zu tun, als würde ich ihn nicht entdeckt haben. Wie ich meinen Kopf von den Papieren hob, füllte seine Gestalt das Fenster vollständig aus, eine kräftige Gestalt, Fellmütze tief ins Gesicht gezogen, Nase und Mund von einem eisigen Tuch bedeckt, Eis schimmerte gleichwohl an seinen Wangen, Wimpern, Brauen, im dichten Gewächs über hellen Augen, die mich aufmerksam beobachteten. Ich erschrak. Kaum hatte ich eine Hand zum Gruß gehoben, war der Mann verschwunden. Ich öffnete die Tür, folgte seinen Fußspuren wenige Meter weit bis zu Schneewehen jenseits einer hölzernen Treppe hin, die aufwärts führte. Da waren seine Spuren deutlich zu erkennen, weite Schritte, als würde er fliehen. In der Dunkelheit keine Bewegung, kein Laut, nur der Wind, der seit Stunden vom Fjord her kommend aufwärts strömt. Ich werde ein wenig schlafen.
Route der Walgruppe im Winter
von Süden nach Norden so wie sie
aus Sonarortungen vorsichtig
abgeleitet werden
kann.
17. DEZEMBER — 6.15 UTC / Gegen drei Uhr klopfte ein weiterer Mann an die Tür meines Hauses, ein Mann, in Felle gehüllt und kreuzweise von Lederriemen besetzt. Der Mann füllte das Zimmer mit Kälte. Er trug einen Aluminiumkoffer vor sich her, stellte ihn auf den Boden neben Tisch, reichte mir eine Hand, die in roten Lederhandschuhen steckte. Er lachte mich freundlich an, das war ein unvergesslicher Anblick, sein gebräuntes, unrasiertes Gesicht, blitzblaue Augen, Schnee und Eis auf Wagen und Haar. Kurz darauf war er wieder verschwunden. — Es ist noch früh am Morgen, dennoch habe ich meine Arbeit unverzüglich aufgenommen. Seit drei Stunden sitze ich vor meinem Zimmertisch, der zu einer Werkbank geworden ist. Im trüben Licht eines Eisblocks, zeichnet sich schemenhaft eine robuste Apparatur ab, über deren Sinn und Zweck zu diesem Zeitpunkt noch keine präzise Auskunft möglich ist. Es handelt sich vermutlich um eine Maschine zur Aufzeichnung und Verwirklichung von Kommunikation. Des Weiteren sind im Eis zwei menschliche Hände zu erkennen, sie halten sich an der Apparatur fest. Beide Hände finden ein jähes Ende an der Oberfläche des Eiswürfels, je ein sauberer Schnitt, vermutlich verwirklicht mittels einer feinen Säge oder einem Laserwerkzeug. Kein Blut ist zu sehen, aber Sehnen, Muskeln, Knochen und eben kräftige Hände, die die Apparatur umschließen. Im ersten Moment ein Gefühl leichter Panik, dann wieder Ruhe. Ich halte fest: Das Eis, das ich zu untersuchen habe, ist von seltsamer Farbe, orange und rot und braun, ein strenger Geruch steigt von ihm auf, noch nie habe ich einen Geruch, noch nie einen Gestank wie diesen vernommen. Es sollte jetzt alles sehr schnell gehen. Folgendes werde ich unternehmen: Skizze fertigen, Gewicht des Eiswürfels bestimmen, Proben entnehmen mittels Pipette, dann zügig in das Eis vorstoßen, Handpräparate bergen, so wie das Gerät, dem sie zu diesem Zeitpunkt noch immer fest verbunden sind.
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18. DEZEMBER — 10.02 UTC / Ich arbeitete entspannt, leichte Anflügen von Übelkeit. Habe drei Artefakte aus dem Eis geborgen. Wenn ich einige Schritte vom Tisch zurücktrete, bietet sich ein merkwürdiger Anblick. Ein modernes Tonaufnahmegerät, gesäubert und getrocknet liegt auf dem Tisch, das Eis ist vollständig getaut. Auf einem Tuch ruhen zwei Hände, die Hände eines Mannes, der hart gearbeitet haben muss. Schwielen da und dort, Verletzungen, die zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht geheilt gewesen waren, außerdem zahlreiche Narben früherer Wunden. Diese verletzten Hände waren dem Tonaufnahmegerät in großer Kraftanstrengung, vielleicht gar mit letzter Kraft, verbunden. Ich nehme an, sie wollten das Gerät um jeden Preis für sich behalten, sie wollten das Gerät nicht verlieren, das Gerät vermutlich sichern für eine Person, wie ich eine Person bin, die das Gerät früher oder später entdecken würde. Ich habe beide Hände unter Anwendung von Gewalt von dem Tonbandgerät entfernt. Sie sind noch immer starr, wirken einsam, wie sie dort auf dem Tisch Seite an Seite liegen. Ich werde sie in ein Tuch wickeln, werde sie in den kühlen Keller legen, ja, das werde ich tun, weiteres kann ich nicht unternehmen. Es ist jetzt kurz vor 11 Uhr.
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18. DEZEMBER — 12.18 UTC / Wenn ich nicht wüsste, dass es genauso ist, weil es vorsichtig angekündigt worden war, würde ich niemals vermutet haben, dass jene Aufzeichnungsmaschine, die vor mir auf dem Tisch ruht, dem Magen eines Wales entnommen worden sein könnte. Es sollen im Tier weitere Gegenstände entdeckt worden sein: Zwei Koffer, eine Plattenkamera und eine Sauerstoffflasche, außerdem metallene Teile einer Rettungsinsel, Kunststoffgegenstände unbestimmbaren Ursprungs. Ich bin zufrieden. Es ist warm und hell. Ich weiß, was zu tun ist. Es riecht noch immer erbärmlich, ein scharfer Geruch, auch süßlich. Ich werde das geborgene Gerät nun öffnen. Das Gerät ist ohne Spannung.
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18. DEZEMBER — 16.03 UTC / Noch immer leichte Übelkeit, ich bin durstig. Ich stelle fest: Das Magnetband der Aufzeichnungsmaschine scheint intakt. Ich habe die Maschine mit Strom versorgt. Ihr Display leuchtet. Ich vermag ihren Vorlauf in Gang zu setzen und ihren Rücklauf, ein solides Gerät, auch Sender und Empfänger scheinen intakt zu sein, Kompass und Temperaturanzeige, keine Feuchtigkeit im Gehäuse, kein Staub. Die Handkurbel, die der Notstromversorgung des Gerätes diente, fehlt. Ich werde in Kürze eine digitale Transkription jener Aufnahmen vornehmen, die auf dem Gerät möglicherweise zu finden sein werden.
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Wellen. Wellen, die gegen einen Bootskörper schlagen, hörte Wind, hörte das Atmen einer Person, hörte kurbelnde Geräusche. Dann eine Stimme, eine ruhige Stimme, die Stimme eines Mannes. Ich notierte, spulte zurück, setzte von neuem an, notierte Wort für Wort, Zeichen für Zeichen in das Notebook: > Seit es hell geworden ist, halte ich Ausschau nach Überlebenden. Leichter Wind von Nordwest. Kein Kopf. Keine Bewegung. Kein Schiff. Kein Flugzeug. Nachts geschlafen. Kurz, wie ausgeschaltet. Dann gerufen, eine Stunde oder zwei gerufen. Keine Antwort. Habe eine Signalfackel gezündet. Kein Ton. Kein Zeichen. Kein Gegenfeuer. Aber die Wale sind zurückgekehrt. Da waren noch Trümmer auf dem dunklen Wasser, leere Westen, etwas Holz, Matratzen, Kissen, Öl. Dann Anderson, June, 32, Mrs. Callas rechte Hand, Kopf unter. Zwei Matrosen, gleiche Haltung. Von Zeit zu Zeit Flaschen, Torpedos: Bourbon, Absinth, Mandelbarbero, wie Vögel aus der Tiefe. Habe Anderson, June, hinter Einstiegsluke 2 festgemacht, habe vor Einstiegsluke 1 Position bezogen. Ich beobachte den Horizont, den Himmel, das Wasser. 13 Stunden seit Untergang der MS Seatown. ~
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Stunde um Stunde, klar und deutlich, die Stimme eines Mannes, dann wieder das Tosen des Meeres. Der Mann berichtet von seiner Reise auf einer Rettungsinsel, ein guter Erzähler, ich höre ihn gerne, er spricht in englischer Sprache, ich hoffe, jedes seiner Worte korrekt identifizieren zu können. Bald Nachtzeit. Immer wieder unterbreche ich meine Arbeit und lausche, trete ans Fenster, schaue hinunter zum Eis auf dem Fjord. Der Eindruck, mich in einem Nachthaus zu befinden, einem Haus, das Nacht erzeugt. Jede Stunde eine Abend- oder Nachtstunde, das ist seltsam, bald Weihnachten, bald Weihnachten hier oben im Norden. Nach wie vor keine Verbindung zu weiteren Schreibmaschinen. Ich habe den Verdacht, abgeschirmt worden zu sein. Vor einer Stunde beobachtete ich eine Gruppe von Eisbären, die sich der Bergungsstelle näherten. Kein Schuss war zu hören, Männer liefen auf die Eisbären zu, winkten mit Signalfackeln. Einer der Männer wurde von einem Eisbären umgerissen und in die Dunkelheit gezerrt, Personen sehr aufgeregt, rannten hin und her.
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19. DEZEMBER — 10.22 UTC / Kaum wach, etwas Dorsch gebraten zum Frühstück, Heilbutt und Walfleisch. Mein Magen scheint sich beruhigt zu haben. Ich fühle mich gut. Ich schaue auf Flocken, die sich im Licht vor dem Fenster tanzend bewegen. Lausche Joe Ellis, wiederhole transkribierte Abteile seines Textes, prüfe und fahre langsam fort in kleinen Etappen. Seine Stimme merkwürdig leise. Es ist, als ob Joe Ellis bemüht gewesen war, niemanden zu wecken, der sich in seiner Nähe aufgehalten haben könnte. Verzweifelte Versuche, Panik zu vermeiden. Berührende Aufzeichnungen. Zwei Jahre sind vergangen, seit diese Schreibmaschine, die vor mir auf dem Tisch liegt, aufhörte zu senden, das ist denkbar. Fünf Tage von Aufzeichnung, dann Stille, eine Stille wie nichts. Es ist wahrscheinlich, dass Joe Ellis seine Handkurbel verlor. Unhörbar all das Weitere. Das Gespräch vielleicht mit den Walen, Bitten, Flüche, Hoffnung, doch noch bemerkt zu werden. Seine Sorge, Schiffe, die sich in einem Rettungsversuch näherten, könnten sinken, sein unbedingter Wunsch, das vor mir liegende Aufnahmegerät würde rechtzeitig geborgen. Immer wieder spule ich vor und zurück, suche Wörter und Sätze: > ATLANTIK 2.33 pm. Eine dünne Haut von Wasser ist über den Himmel aufgezogen, das Meer in ein mildes, in ein gelbes Licht getaucht. Ich habe den Eindruck, auch die Wale bewundern diesen Himmel, dieses seltsame Licht. Sie haben angehalten, sie liegen seitwärts im Wasser und schauen nach oben. Da ist wieder der Gedanke, alles um mich und auch ich selbst könnte nur eine Erfindung sein.