sammlung

von geschich­ten die ich
in einem zug sitzend
sofort erzäh­len würde

eine meerwalnuss

In einem Aqua­ri­um begeg­ne­te ich einem Nadel­pferd­chen. Die­se Begeg­nung war viel­leicht der ers­ten Begeg­nung eines Kin­des mit einer Weih­nachts­ku­gel ver­gleich­bar. Ich konn­te mei­nen Blick von dem fili­gra­nen Wesen, das hin­ter etwas Glas vor mir laut­los im Was­ser schweb­te, nicht wen­den. Ich war ganz sicher nicht der ers­te Mensch gewe­sen, den die­ses fei­ne Wesen im Aqua­ri­um wahr­ge­nom­men haben moch­te, hun­dert­tau­sen­de Augen­paa­re, Nasen, Fin­ger, Men­schen eben da drau­ßen hin­ter den Schei­ben, unge­fähr­li­che, manch­mal klei­ne Men­schen, die auf den Armen oder Schul­tern gro­ßer Men­schen hock­ten. Vor eini­gen Mona­ten bemerk­te ich in einem Film­do­ku­ment eine Meer­wal­nuss, wun­der­ba­re Bezeich­nung, ihr Leuch­ten, und wie­der konn­te ich mich nicht abwen­den, habe meh­re­re Stun­den über Meer­wal­nüs­se geforscht in der digi­ta­len Sphä­re. Die Schei­be des Aqua­ri­ums war nun ein Bild­schirm, Blick nur in eine Rich­tung, kei­ne eigent­li­che Begeg­nung, viel­mehr Beob­ach­tung. Ich soll­te bald ein­mal einen Ver­such unter­neh­men, Meer­wal­nüs­se tat­säch­lich leib­haf­tig dort zu besu­chen, wo sie leben, wer weiß wie lan­ge noch. Ich erin­ne­re mich an einen Rei­se­be­richt, den Lud­wig Hohl notier­te. Dort fol­gen­de Zei­le: 8 Uhr 30. Meer. — Meer leer. stop. Beob­ach­tungs­zeit = Belich­tungs­zeit. In der ver­gan­ge­nen Nacht wie­der ein Traum vom Mann, der vor einem Aqua­ri­um sitzt und einen Schwarm dun­kel­blau­er Fische betrach­tet. Als ich hin­zu­trat, hör­te ich, dass der Mann mit lei­ser Stim­me Zah­len flüs­ter­te. Ich frag­te ihn, was er denn berech­nen wür­de, und der Mann ant­wor­te­te, dass er die Fische zäh­le, dass er sich nicht sicher sei, ob es sich bei dem Schwarm blau­er Fische, um einen Schwarm von 1556 oder von 1557 Ein­zel­per­so­nen han­de­le. stop. Ist das wil­de Spiel der Polar­lich­ter am Him­mel aus einer Tie­fe von 70 Metern unter der Mee­res­ober­flä­che vor Neu­fund­land noch zu erkennen?

 

/ Ein Bär in meinem
Arbeits­zim­mer >
 

vom bär

16.11 UTC — Ges­tern ist mir etwas Lus­ti­ges mit mir selbst pas­siert. Ich stell­te mir vor, wie es wäre, wenn direkt vor mir ein Eis­bär ste­hen wür­de. Der vor­ge­stell­te Eis­bär soll­te ein ernst­zu­neh­men­der Eis­bär sein, unge­fähr drei Meter in der Höhe, sofern er sich auf sei­ne Hin­ter­bei­ne stellt. Ich stand also in mei­nem Zim­mer und über­leg­te, wie es wäre, wenn ein Eis­bär vor mir ste­hen wür­de, der gera­de noch unter mei­ner Zim­mer­de­cke Platz fin­den wür­de. Plötz­lich saß ich auf dem Boden und fand die­se Hal­tung ange­sichts eines Polar­bä­ren in mei­nem Zim­mer sehr ange­mes­sen. Kurz dar­auf wur­de ich gefres­sen. Ich mei­ne mich erin­nern zu kön­nen, der Bär begann mit der Schul­ter, mei­ner rech­ten Schul­ter. Ich fühl­te zunächst kei­nen Schmerz. Viel­mehr über­leg­te ich, ob ich dem Eis­bä­ren schmeck­te. Viel­leicht war die­se Fra­ge des­halb bedeu­tend, weil ich eine ähn­li­che Fra­ge bereits anhand der Löwen­spe­zi­es ver­han­delt hat­te mit Akos­si­wa, die ihr jun­ges Leben über­wie­gend in der Stadt Yaoun­dé ver­brach­te. Wäh­rend eines Gesprä­ches in einem Zug erklär­te sie, Tie­re, die ich als wil­de Krea­tu­ren bezeich­ne­te, Affen, sagen wir, Löwen, Anti­lo­pen, wür­den für Bür­ger ihres Hei­mat­lan­des über­wie­gend im zen­tra­len Zoo der Haupt­stadt zu fin­den sei­en. Man kön­ne sie dort besu­chen, man müs­se sich nicht fürch­ten, aller­dings wür­de der Besuch Ein­tritt kos­ten. Um Löwen in Yaoun­dé besu­chen zu kön­nen, musst Du über­haupt erst ein­mal nach Kame­run flie­gen. Du fliegst, sag­te Akos­si­wa, am bes­ten über Paris oder Ams­ter­dam süd­wärts, das ist über­haupt kein Pro­blem. Kurz zuvor hat­te ich Akos­si­wa eine durch­aus dra­ma­ti­sche Vor­stel­lung ihres Geburts­lan­des aus mei­ner Sicht skiz­ziert, in der ver­mut­lich wirk­li­che wil­de Tie­re natür­li­cher­wei­se auch jen­seits der Natur­re­ser­va­te exis­tie­ren. Bald ent­wi­ckel­te sich ein auf­re­gen­des Gespräch über Wahr­neh­mung, Wirk­lich­keit und Pro­jek­ti­on einer­seits, ande­rer­seits über die Exis­tenz wie­der­um  nie­der­bay­ri­scher Auer­häh­ne in mei­nem per­sön­li­chen Leben. Eine Zug­fahrt von Ngaoun­dé­ré nach Dou­a­la sei reiz­voll, berich­te­te Akos­si­wa, es exis­tie­re auch eine Nacht­zug­ver­bin­dung, die wür­de sie aber nicht emp­feh­len: Weil Du nichts siehst!

/  Mit einem Buch von
Eis durch die Stadt>
 

von den eisbüchern

Vor eini­gen Tagen habe ich einen beson­de­ren Kühl­schrank in Emp­fang genom­men, einen Behäl­ter von enor­mer Grö­ße. Ich kann mit Fug und Recht behaup­ten, dass die­ser Kühl­schrank, in wel­chem ich pla­ne im Som­mer wie auch im Win­ter kost­ba­re Eis­bü­cher zu stu­die­ren, eigent­lich ein Zim­mer für sich dar­stellt, ein gekühl­tes Zim­mer, das wie­der­um in einem höl­zer­nen Zim­mer sitzt, das sich selbst in einem grö­ße­ren Stadt­haus befin­det. Nicht dass ich in der Lage wäre, in mei­nem Kühl­schrank­zim­mer auf und abzu­ge­hen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unter­zu­brin­gen und eine Lam­pe und ein klei­nes Regal, in dem ich je zwei oder drei mei­ner Eis­bü­cher aus­stel­len wer­de. Dort, in nächs­ter Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen wei­te­ren klei­ne­ren, äußerst kal­ten, einen sehr gut iso­lier­ten Kühl­schrank auf­ge­stellt, einen Kühl­schrank im Kühl­schrank sozu­sa­gen, der von einem Not­strom­ag­gre­gat mit Ener­gie ver­sorgt wer­den könn­te, damit ich in den Momen­ten eines Strom­aus­fal­les aus­rei­chend Zeit haben wür­de, jedes ein­zel­ne mei­ner Eis­bü­cher in Sicher­heit zu brin­gen. Es ist näm­lich eine uner­träg­li­che Vor­stel­lung, jene Vor­stel­lung war­mer Luft, wie sie mei­ne Bücher berührt, wie sie nach und nach vor mei­nen Augen zu schmel­zen begin­nen, all die zar­ten Sei­ten von Eis, ihre Zei­chen, ihre Geschich­ten. Seit ich den­ken kann, wollt ich Eis­bü­cher besit­zen, Eis­bü­cher lesen, schim­mern­de, küh­le, uralte Bücher, die knis­tern, sobald sie aus ihrem Schnee­schu­ber glei­ten. Wie man sie für Sekun­den lie­be­voll betrach­tet, ihre pola­re Dich­te bewun­dert, wie man sie dreht und wen­det, wie man einen scheu­en Blick auf die Tex­tu­ren ihrer Gas­zei­chen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den lei­se sum­men­den Eis­buch­rei­se­kof­fer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeis­ter­ten Bli­cke der Fahr­gäs­te, wie sie flüs­tern: Seht, dort ist einer, der ein Eis­buch besitzt! Schaut, die­ser glück­li­che Mensch, gleich wird er lesen in sei­nem Buch. Was dort wohl hin­ein­ge­schrie­ben sein mag? Man soll­te sich fürch­ten, man wird sei­nen Eis­buch­rei­se­kof­fer viel­leicht etwas fes­ter umar­men und man wird mit einem wil­den, mit einem ent­schlos­se­nen Blick, ein gie­ri­ges Auge nach dem ande­ren gegen den Boden zwin­gen, solan­ge man noch nicht ange­kom­men ist in den fros­ti­gen Zim­mern und Hal­len der Eis­ma­ga­zi­ne, wo man sich auf Eis­stüh­len vor Eis­ti­sche set­zen kann. Hier end­lich ist Zeit, unterm Pelz wird nicht gefro­ren, hier sitzt man mit wei­te­ren Eis­buch­be­sit­zern ver­traut. Man erzählt sich die neu­es­ten ark­ti­schen Tief­see­eis­ge­schich­ten, auch jene ver­lo­re­nen Geschich­ten, die aus purer Unacht­sam­keit im Lau­fe eines Tages, einer Woche zu Was­ser gewor­den sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist kei­ne Zeit für alle die­se Din­ge. Es ist immer die ers­te Sei­te, die zu öff­nen man fürch­tet, sie könn­te zer­bre­chen. Aber dann kommt man schnell vor­an. Man liest von uner­hör­ten Gestal­ten, und könn­te doch nie­mals sagen, von wem nur die­se fei­ne Luft­eis­schrift erfun­den wor­den ist.
ping

 

/  Ver­such einer
Brief­zu­stel­lung
in Uum­man­n­aq >

ein brief nach uummannaq

Auf der Anschrif­ten­sei­te eines Brie­fes war ein Text notiert, den ich zunächst nicht ent­zif­fern konn­te. Ich hat­te das Kuvert bei einem Händ­ler ent­deckt, des­sen Brief­ku­vert­samm­lung auf einem Tisch unter einem Schirm sorg­fäl­tig aus­ge­brei­tet wor­den war. Es waren sehr vie­le Brie­fe, der Händ­ler muss­te früh auf­ge­stan­den sein, um recht­zei­tig vor Ein­tref­fen der ers­ten Besu­cher sei­nes Floh­markt­stan­des mit der Dar­le­gung sei­ner Samm­lung fer­tig gewor­den zu sein. Es reg­ne­te. Ich stand unterm Schirm und betrach­te­te einen Brief­um­schlag nach dem ande­ren Brief­um­schlag. Auf jenem Brief, von dem ich hier kurz erzäh­le, kleb­ten zwei rus­si­sche Brief­mar­ken, sie waren noch gut zu erken­nen, zwei Wal­fi­sche schweb­ten dort vor dun­kel­blau­em Hin­ter­grund. Außer­dem waren in einer Spra­che, die ich nicht kann­te, zahl­rei­che Zei­chen, ein klei­ner Text, unter­halb eines Namens ange­bracht. Der Name lau­te­te: Alma Pipa­luk. Ich frag­te den Händ­ler, ob er wis­se, was die­ser kur­ze Text­ab­schnitt bedeu­ten wür­de. Neu­gie­rig gewor­den kauf­te ich den Brief, spa­zier­te nach Hau­se und setz­te mich an mei­ne Schreib­ma­schi­ne, tipp­te die Zei­chen sorg­sam in die Ein­ga­be­mas­ke eines Über­set­zungs­pro­gramms. Die Spra­che, die ich notier­te, war die däni­sche Spra­che, bei dem Text, den ich vor­ge­fun­den hat­te, han­del­te es sich um eine Anwei­sung an einen Brief­zu­stel­ler, der von der Post­stel­le einer klei­nen Sied­lung namens Uum­man­n­aq aus, den Brief an sei­ne Emp­fän­ge­rin lie­fern soll­te. Der Text lau­te­te in etwa so: Bit­te nach Anor­lern­ertooq nörd­li­che Bie­gung am roten Haus vor­bei rechts über den Steg zum gel­ben Haus an Alma Pipa­luk nicht vor Sep­tem­ber. Der Brief trug zwei pos­ta­li­sche Stem­pel­zei­chen, akku­rat auf­ge­tra­gen. Er war geöff­net wor­den irgend­wann von irgend­wem. — stop

 

/ Eine Licht­fang-
maschi­ne im Norden
vor lan­ger Zeit
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lichtspur

Die­se Foto­gra­fie wur­de von James Wil­liams Tyrell im Jahr 1884 auf­ge­nom­men. Zwei Män­ner im Schnee. Es ist ver­mut­lich weder Som­mer ( zu viel Schnee ) und noch Win­ter ( zu viel Licht ), viel­leicht ist Früh­ling. Einer der Män­ner scheint zu lachen. Mög­li­cher­wei­se wur­de in jenem Augen­blick, des­sen Spur an die­ser Stel­le zu sehen ist, die ers­te Foto­gra­fie sei­nes Lebens von ihm ange­fer­tigt. Es ist denk­bar, dass der lachen­de Mann zum ers­ten Mal in sei­nem Leben eine Foto­ka­me­ra beob­ach­te­te, viel­leicht wirk­te der Foto­graf, der sich hin­ter sei­ner Foto­ka­me­ra ver­neigt haben könn­te, selt­sam, komisch, unbe­hol­fen. Oder aber der Mann, der in Uum­man­n­aq gelebt haben könn­te, begeg­ne­te dem Blick des Kame­ra­au­ges mit höf­li­cher Freund­lich­keit, die auch in unse­rer Zeit nicht sel­ten zu beob­ach­ten ist. Die Exis­tenz eines Wal­fi­sches in der Grö­ße Jennifer.fives wird ver­mut­lich eben­so unbe­kannt gewe­sen sein, wie kurz zuvor noch die Exis­tenz einer Lichtfangmaschine.

 

/ Vom wun­der­vol­len
Leuch­ten kleinster
Was­ser­glüh­bir­nen
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