Joe Ellis, Reiseschriftsteller irischer Herkunft
notiert auf einer Funkschreibmaschine,
während er auf einer Rettungsinsel
sitzend durch den nördlichen Atlantik
treibt. Es ist September. Das Jahr
2018. Joe Ellis ist nicht allein.
ATLANTIK 8.05 a.m. Seit es hell geworden ist, halte ich Ausschau nach Überlebenden. Leichter Wind von Nordwest. Kein Kopf. Keine Bewegung. Kein Schiff. Kein Flugzeug. Nachts geschlafen. Kurz, wie ausgeschaltet. Dann gerufen eine Stunde oder zwei. Keine Antwort. Habe eine Signalfackel gezündet. Kein Ton. Kein Zeichen. Kein Gegenfeuer. Aber die Wale sind zurückgekehrt. Da waren noch Trümmer auf dem dunklen Wasser, leere Westen, etwas Holz, Matratzen, Kissen, Öl. Dann Anderson, June, 32, Mrs. Callas rechte Hand, Kopf unter. Zwei Matrosen, gleiche Haltung. Von Zeit zu Zeit Flaschen wie Torpedos: Bourbon, Absinth, Mandelbarberos, Vögel aus der Tiefe. Habe Anderson, June, hinter Einstiegsluke 2 festgemacht, habe vor Einstiegsluke 1 Position bezogen. Ich beobachte den Horizont, den Himmel, das Wasser. 13 Stunden seit Untergang der MS Seatown. ~
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8.28 a.m. Habe meinen Körper untersucht. Leichte Unterkühlung. Keine weiteren Beschädigungen. Rettungsinsel intakt. Luftkammern ohne Verlust. Ich verfüge über 28 Beutel Trinkwasser des Jahres 1988, 16 Portionen Fertignahrung, 3 Kilogramm Trockenbrot, 36 Tabletten gegen Seekrankheit, 1 schwimmfähiges Messer, 5 Signalfackeln in Rot, 2 Signalfackeln in Gelb, 1 Signalflöte, 1 Schöpfgefäß, 17 Rettungswesten, 1 Wurfring mit Leine, 1 wasserdichte Taschenlampe, 14 Batterien, 1 Feuerzeug, 5 Fettstifte, 1 Überlebenshandbuch in finnischer Sprache, 1 Funkschreibmaschine mit Handkurbel. Verdammte Geschichte. Verdammte Geschichte, wie ich hier sitze und notiere. ~
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8.58 a.m. Ich schreibe 10 Sätze, dann spreche ich jene 10 Sätze, die ich notiert habe, und schon ist der Strom meiner Schreibmaschine zu schwach geworden, um weiter sprechen oder schreiben zu können. Und wieder kurbele ich. Ich kurbele so lange, bis ich erneut ausreichend Strom erzeugt habe, um meine Nachricht senden zu können. Ich kurbele 5 Minuten für 10 kurze Sätze in Zeichen und Worten. Ich kurbele 3 Minuten für das Senden der Nachricht. ~
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9.15 a.m. Das Meer unbewegt. Windstille herrscht. Nichts zu hören, nur das Blasen der Wale. Ein kühles Geräusch von Wasser, von Luft. Sie liegen um die Rettungsinsel herum. Ich habe den Eindruck, sie warten. 12 Tiere. Gewaltige Körper. Weiß, sobald sie erregt sind. Schwarz, sobald sie ruhen. Helle Augen, helle, graue Augen. Längs, über den Bauch hin, eine handbreite Zeichnung. Orangefarben. Exakte Linie, als sei sie von einer Maschine aufgetragen. Sie werden 1 oder 2 Stunden unter Wasser gewesen sein, vielleicht waren es 5, vielleicht 6, vielleicht 7 Stunden. Die Luft riecht nach Metall, nach Salz, nach Tang. Von Zeit zu Zeit tauchen sie ab, kreuzen unter der Insel, ohne uns zu berühren, und ohne das Wasser zu bewegen, als wollten sie uns schonen. Auch Mrs. Anderson, unbewegt. Keine Raubfische. Ich warte auf Rettung. ~
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9.25 a.m. joe ellis hier — rufe london — das ist ein notruf — may — day — may — day — das ist ein notruf — london bitte kommen — rufe london — rufe international metamorphosis observer — may — day — may — day — seatown um 8.07 pm gesunken — befinde mich auf rettungsinsel h/768 — auftrag ausgeführt — habe mit mrs. ginger callas gesprochen. ~
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11.30 a.m. Seit 2 Stunden jetzt fahren wir gegen Strömung und Wind. Exakte Bewegung nordwärts. Wir fahren so schnell, dass wir Wellen erzeugen. Die Wale spielen mit uns, sie wechseln sich ab, schwimmen Stafette. Manchmal drehen wir uns langsam um die eigene Achse. Schwüle, nasse Luft. Bin seekrank seit 1 Stunde. Habe Tabletten eingenommen. Keine Wirkung. Vor 1 halben Stunde noch ein Schiff am Horizont. Habe unverzüglich Fackel entzündet, habe etwas Feuer gegen den Himmel geschossen, seither schöpfe ich Wasser. Der Verdacht, das ist denkbar, dass die Wale nicht wünschen, dass wir Feuer in ihrer Nähe entfachen. ~
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2.00 p.m. Trotz leichten Fahrtwindes, brütende Hitze. Habe 1 Beutel Wasser geöffnet. Uraltes Wasser. Wasser ohne Geschmack. Habe strenge Rationierung eingeführt. Immer wieder spreche ich zu mir selbst, sage, dass ich sinnvoll handele. Und doch sehen wir jämmerlich aus. Mr. Ellis sitzt ohne Hose und ohne Strümpfe 400 Seemeilen vor der britischen Küste auf ummantelter Luft. Ich habe ein Dach über dem Kopf, das Dach ist beschädigt. Anderson, June, intakt. Keine Raubfische. Ich werde mich unverzüglich von ihrem Körper trennen, sobald sie von Raubtieren angefallen würde. Ja, das werde ich. Ich werde ihren Körper von der Insel lösen. Habe angeordnet, Ruhe zu bewahren. ~
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8.30 p.m. Zwielicht. Wir haben angehalten. Kein Wind, nicht der geringste Wind. Stille. Vollkommene Stille. Die Wale schlafen. Sie hängen mit dem Kopf nach unten direkt unter der Wasseroberfläche. Erstmals hörte ich Wale singen. Es ist möglich, dass sie nicht schlafen, sondern trauern. Ja, das ist möglich. Die Insel hat etwas Schlagseite genommen. Ich glaube nicht, dass wir Luft verlieren. Leichte Übelkeit. 24 Stunden seit Havarie der Seatown. Nach und nach komme ich zu der Einsicht, das Schiff könnte gesunken sein, ohne zuvor einen Notruf abgesetzt zu haben. Es ist denkbar, dass die Wale uns bereits aus einer Zone möglicher Suche herausgezogen haben. Wir reisen nach Norden, Mrs. Anderson und ich. Man wird uns im Süden suchen. Das ist denkbar. Ja, das ist sehr gut denkbar. Mrs. Anderson wird nie wieder träumen. ~
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0.35 a.m. Habe den Abend im Halbschlaf zugebracht, Kinn auf den Luftring gestützt, ohne den Horizont aus den Augen zu verlieren. Dann wach. Ich fühle mich etwas leichter. Kein Schiff. Kein Flugzeug. Mrs. Anderson weiterhin intakt. Wir treiben langsam, sehr langsam wieder nach Süden. Großartiger Himmel. Beobachte das Meer. Lufttemperatur gesunken. Erträglich jetzt, aber nach wie vor eine derart feuchte und schwere Atmosphäre über dem Wasser, als käme uns das Meer nach und nach entgegen. Entfernt, am Horizont, ein Wal. Er scheint uns zu umkreisen, eine Patrouille vielleicht. ~
Zeichnung einer Seenotrettungsinsel ohne
Tiefenruder in idealem Zustand. Joe Ellis
Habitat war vermutlich beschädigt.
1.05 a.m. Ich habe etwas Beutelnahrung zu mir genommen, Erbsen und kalten Fisch. Kein Eindruck auf der Zunge. Habe mich an der Insel festgezurrt, habe die Beine ins Wasser gestreckt. Das Wasser ist kühl. Die Wale unter mir schlafen. Schwebende Türme. Von Zeit zu Zeit gleitet unsere Wache vorüber, ein plötzlicher Schatten, als komme Land angeflogen, und ich denke, dass das so unheimlich ist, weil das Land unter mir, das helle, rasende Land, so riesig und weil es so lautlos ist und weil ich nicht weiß, wohin wir reisen. ~
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2.00 a.m. Bald 29 Stunden seit des Untergangs der Seatown. Einmal sehe ich gegen den Himmel, dann in die Tiefe, die ich nicht wahrnehmen, die ich mir nur vorstellen kann in horizontalen Strecken. Blau leuchtende Fische jagen zwischen den schlafenden Kolossen nach Beute. Schnelles, scheues Licht. Von Zeit zu Zeit spreche ich in mein Funktelefon, spreche, nein, flüstere, anstatt zu sprechen, um die Wale nicht zu stören. Ich bezweifle, ob ich in dieser Weise sprechend je gehört werden könnte, so geräuschlos, wie ich mich verhalte. Also notiere ich, was ich zu sagen wünsche: > joe ellis hier — joe ellis — rufe london — rufe london — das ist ein notruf — may — day — may — day — das ist ein notruf — london — bitte kommen — rufe london — rufe international metamorphosis observer — may — day — may — day — seatown gesunken — befinde mich auf rettungsinsel h/768 — auftrag ausgeführt. ~
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2.35 a.m. Zeit, die Arbeit aufzunehmen. Zeit, eine Spur zu schreiben, die ich hinterlassen könnte, sollte ich verschwinden, aufhören für alle Zeit, wie Anderson, June, die nie wieder träumen wird. Schritt für Schritt erzählen von meinem Besuch der Seatown, kurbeln und kurbeln und weiter erzählen, solange ich noch erzählen kann. Da war ein dänisches Fischerboot, ich erinnere mich, ein kleines dänisches Fischerboot. Und da waren kräftige Männer, und wir fuhren vorsichtig voran. Noch ehe wir die Schatten der Seatown in der Dämmerung zu erkennen vermochten, erreichte uns ein Funkspruch. Esta, Esta, hier spricht die Seatown, hier spricht die Seatown. Löschen Sie ihre Lichter. Kommen Sie langsam näher. Wir wiederholen. Achtung, Achtung, hier spricht die Seatown, hier spricht die Seatown, löschen Sie ihre Beleuchtung. Kommen Sie langsam näher! — Also löschten wir unsere Lichter und näherten uns. So hat das angefangen. Wir näherten uns langsam, fast geräuschlos. Ein kaum hörbares Pumpen vom Wasser her, nichts sonst. Dann lag die Seatown plötzlich direkt vor uns. Haushoch ragte sie aus dem Wasser, ein gewaltiges Schiff. Keine ihrer Positionslampen leuchtete, kein Kabinenlicht, auch die Brücke ruhte im Dunkeln. Über dem Vordeck des Schiffes war eine Quarantäneflagge aufgezogen. Sie wurde, als ich sie entdeckte, gerade von einem Matrosen eingeholt. Ich hatte den Eindruck als wir längsseits gingen, dass die Seatown sich langsam um ihre eigene Achse drehte. ~
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3.30 a.m. Keine Zeichen von Bewegung auf dem Wasser, aber der Himmel kreiste langsam über uns, die Sterne, ich erinnere mich, sie tauchten jenseits der Bordwand unter, als würden sie in das Schiff geladen. Indessen war unter den Fischern Erregung aufgekommen. Sie eilten von der einen Seite des Schiffes zu anderen Seite, deuteten zum Wasser hin, und riefen immer wieder: Mr. Ellis, look! Mr. Ellis, look! — Zunächst, ich hatte mich weit über die Bordwand hinaus gebeugt, war nichts zu sehen. Dann aber konnte ich helle Schemen erkennen, Körper, die unter uns auf und ab schwebten, gewaltige Körper, als würden Zeppeline unter uns durchs Wasser fahren. Ohne ein Geräusch zu hinterlassen, schwebten sie vorüber, als seien sie mit uns nicht verbunden, als seien sie nur ein bewegtes Bild ohne Ton. ~
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4.15 a.m. Einer der Matrosen hielt eine Kamera in Händen. Er beugte sich über die Reling, während er von seinen Kameraden an den Beinen festgehalten wurde. Als er den Scheinwerfer der Kamera einschaltete, war sofort ein gellender Ruf vom Deck der Seatown her zu hören, eine schrille Stimme, die Stimme eines Matrosen, der uns befahl, das Licht unverzüglich zu löschen. Vorsicht, schrie er, Vorsicht! Ja, sind Sie noch bei Verstand! Dann trat er einen Schritt zurück und hielt sich den Kopf mit beiden Händen, vielleicht, weil er nicht mit ansehen oder hören wollte, was ohne jede Vorwarnung sofort mit uns geschehen würde. Unser Boot wurde von einem heftigen Schlag erschüttert, der uns um einige Meter auf dem Wasser zur Seite setzte, das ganze Schiff mit Mann und Maus. Zwei Matrosen waren über Bord gegangen. Wir beobachteten, wie sie über weißes Land rollten, glänzendes, nasses Land, das jenseits unseres Bootes aus dem Meer aufgestiegen war. ~
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5.15 a.m. Die Luft, ich erinnere mich, roch nach Metall und nach Salz, und es war kühl, für einen Moment war es kühl geworden. Dann verschwand das weiße, glänzende Land, und das Meer beruhigte sich. Wir zogen die Matrosen aus dem Wasser und ich bald zur Seatown über. Kaum hatte ich das Deck des riesigen Schiffes betreten, wurde die Flagge der Quarantäne wieder hochgezogen. Ein seltsamer Anblick, wie Zeichen der Gefahr nach Belieben gelöscht und kurz darauf wieder aktiviert werden konnten von der Hand eines Matrosen, der mich mit einer lässigen Handbewegung begrüßte und nicht sehr glücklich zu sein schien über meine Ankunft, vielleicht über meine ganze Erscheinung. ~
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5.40 a.m. Der kleine, schmächtige Mann führte mich mittschiffs. Natürlich wollte ich wissen, wer oder was uns vor wenigen Minuten noch attackiert hatte, auch weshalb die Flagge wieder gesetzt worden sei. Doch der Matrose wollte nicht sprechen, nicht einen Satz. Er sah mich nur an und machte ein Zeichen. Ich sollte ihm schweigend folgen. Es war totenstill auf dem Schiff. Ich erinnere mich, nicht das geringste Geräusch, kein Motor, keine Stimmen, aber unser Atem, das Geräusch unserer Schritte. Ich bemerkte, wie sich das dänische Schiff, das mich zu Seatown gebracht hatte, langsam rückwärts fahrend entfernte. Dann eine Treppe und noch eine Treppe, eine sehr steile Treppe, fast senkrecht führte sie in den Bauch des Schiffes. ~
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5.55 a.m. Düsteres Notlicht. Da war Licht in Blau und in Rot. Da waren Wände von dunklem Holz, einem Holz, das Tiefe zeigte, das aus seinem Inneren zu leuchten schien wie das Holz der Pfeifenköpfe. Und da war glänzendes Messing und auf dem Boden zu Stein gelaufene Planken. Die Luft im Bauch des Schiffes duftete nach Kaffee und bitter nach Öl und herbem Wachs. Und da war eine Kabine, eine geräumige Kabine auf Höhe der Wasseroberfläche. Warten Sie hier, Mr. Ellis, sagte der Matrose leise. Er sagte noch, ich sollte jedes Licht vermeiden, das vom Meer her einzusehen sei. Er sah mich indessen an, als sei ich bereits verloren. Und er sagte noch: Rauchen Sie nicht, verdammt, rauchen Sie nicht! Seine Stimme war rau geworden, eine Stimme wie von Sand. ~
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6.35 a.m. Ich wartete, ich warte lange. Dann löschte ich das Licht wie befohlen, öffnete die Luke und sah auf das Meer hinaus. Das Meer war weiterhin ohne Bewegung. Glimmende Mollusken dümpelten um das Schiff. Sie leuchteten in Grün, aber ihre Augen, die sie aus dem Wasser streckten, waren von einem kräftigen Zitronengelb. Unter dieser Beobachtung wurde ich schwer und müde. ~
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ATLANTIK 6.55 a.m. Nach sechs Uhr. Ich bin zufrieden. Ich habe gekurbelt, ich habe Strom erzeugt, habe vorgelesen, was ich geschrieben habe, habe meine Stimme aufgezeichnet und gesendet, was ich notierte und vorgetragen habe. Ich bin froh, obwohl ich nicht weiß, ob je ein Mensch lesen und hören wird, was ich erzähle. Ein großartiger Himmel schwebt über mir, wundervolle Stimmung. Habe wieder leise Hoffnung. Ich denke, dass meine Worte vielleicht doch nicht verloren gehen werden. Ich denke, dass ich gehört, dass ich doch vielleicht gehört oder gelesen werde. Wenn nicht in London, dann auf Island, das ist denkbar, oder auf Neufundland. Also werden wir weiter schreiben und weiter sprechen. Wir werden Ruhe bewahren. Ruhe! ~
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7.20 am. — joe ellis hier — joe ellis — rufe london — rufe london — das ist ein notruf — may — day — may — day — rufe international metamorphosis observer — may ‑day — may — day — seatown gesunken — befinde mich auf rettungsinsel h/768 — position unbekannt — habe mit mrs. ginger callas gesprochen. — notiere bericht vom besuch im bauch der seatown. — setze nun fort. — bitte melden. ~
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7.55 a.m. Ich habe mich beruhigt und auch die Wale haben sich beruhigt, wir gleiten fast geräuschlos durchs Wasser. Ob sie wohl bemerken, dass ich wieder in vollständigen Sätzen zu denken vermag? Erneut hatte ich mit dem Feuer gespielt. Ich hatte mit einer Lampe Zeichen gegen den Horizont geschickt. Jetzt ist es wieder still, auch der Himmel über mir ist still. Der Wal, der gerade eben noch tobte, der das Wasser teilte, der in die Luft sprang, der das Licht der Lampe mit Tang und Salz und Wasser zu löschen versuchte, schwebt seitlich der Insel und beobachtet mich. Seine Herde ist wieder senkrecht zurück in den Schlaf gefallen. Ich vermute, ich habe es mit einem Leittier zu tun. Ich spüre, das Leittier ist ein weibliches Tier. Habe ihr den Namen Jennifer Five gegeben. ~
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8.15 a.m. Das Auge, das mich noch immer beobachtet, erscheint groß wie ein Kuchenteller. Ich berühre dieses helle, blaue Auge, das mich betrachtet, mit meinem Blick, und ich denke, da ist nichts, was ich fürchten müsste, da ist ein warmer Ausdruck in diesem Auge, ein herzlicher Ausdruck, sehr aufmerksam. Es kommt mir so vor, als würde mich dieses Auge mit Sorge betrachten, wie ich hier sitze und mit mir selbst spreche, auch mit Mrs. Anderson spreche, mit June, die etwas pfeift in der feuchtwarmen Luft. Entfernt noch seltsames Licht, das aus dem Wasser zu kommen scheint, ein grünes Leuchten, Lumineszenz vielleicht, Mollusken, kein Licht, das gelöscht werden musste. ~
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8.38 a.m. Wie ein Traum, dann wieder kein Traum. Der Eindruck, als wären Jahre, nicht Stunden vergangen seit dem Untergang der Seatown. Ich weiß nicht wie, ich weiß nicht welchen Weg ich durch das Schiff genommen hatte, ob ich auf eigenen Beinen ging oder getragen wurde. Ich erinnere mich, erwacht zu sein, als das Schiff noch ohne Beschädigung auf dem Atlantik kreiste. Ich hatte geschlafen, ich weiß nicht, wie lange Zeit ich geschlafen hatte. Ich erinnere einen Raum, der hell erleuchtet gewesen war. Mein Kopf wog schwer und die Beine waren von Blei und schmerzten und waren kraftlos und nicht willens, meinen Anordnungen zu folgen. ~
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8.52 a.m. Da waren medizinische Geräte auf einem Tisch, ein weißes Hemd und eine helle Hose über einen Stuhl geworfen, ein paar leichte, gleichfalls helle Schuhe, eine Bahre, zwei sich gegenüberliegende, massive Türen, nicht hölzern, sondern von Stahl, ein kleines, rundes Fenster, vernietet. Und da waren ein Monitor und da war ein Flüstern in meinem Kopf, ein flüsterndes Knistern, als würde ein Insekt seine Flügel entfalten. Und da waren noch Schläge gegen den Boden des Schiffes, dumpf und rhythmisch, scheinbar ohne Pause. Ich war nackt und von hellem Sand bedeckt, der bitter schmeckte, der mir in Nase und Ohren gedrungen war, der sich bewegte, der über meinen Körper zu hasten schien. ~
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9.15 a.m. Vorsichtig setzte ich mich auf. Ich bewegte Arme und Beine so lange Zeit, bis ich wieder über sie verfügen konnte. Dann kleidete ich mich an, ging auf und ab noch auf unsicheren Füßen. Ich spürte, wie der Boden des Raumes zitterte unter Schlägen, die das Schiff vom Meer her trafen. Auf dem Tisch klirrte ein Glas. Jenseits der kleinen, kreisförmigen Fenster, die in Kopfhöhe in die massiven Türen eingelassen waren, war kein Mensch zu sehen. Dunkelheit hinter der einen, hinter der anderen Tür ein Raum von warmem Licht. Ich konnte durch das Glas hindurch, das massiv zu sein schien wie die Tür selbst, einen blau leuchtenden Boden erkennen. ~
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9.28 a.m. Da war noch etwas Tee auf dem Tisch. Da war eine Uhr, die Nacht längst vorüber. Und da war Anderson, June, 32. Plötzlich, wie aus dem Nichts gekommen, war sie auf dem Monitor erschienen und lächelte und war noch am Leben und sagte mit angenehmer Stimme: Guten Tag, Mr. Ellis. Herzlich willkommen an Bord der Seatown! Wie geht es Ihnen? Haben Sie gut geschlafen? ~
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9.42 a.m. Dann kam Mr. Fuller ins Bild, ein Medizinmann, dessen Erscheinung mich beunruhigte. Ich meinte, erkennen zu können, dass er sich fürchtete. Bei jedem der Hiebe gegen den Boden des Schiffes, schloss er die Augen, als würde er persönlich geschlagen. Während Anderson, June, auf festen Beinen stand, sie war tadellos in ihrer ganzen Erscheinung, schien Mr. Fuller ohne jeden Halt zu sein. Er schwankte und hatte sich die Haare von hinten nach vorne über den Kopf gezogen und war betrunken in einer Weise, die nach Fortsetzung verlangte. Deutlich, sehr deutlich noch höre ich seine Stimme und ein feuchtes Geräusch dazu, das Geräusch entweichender Luft, ein Flattern von Fleisch, das jeden seiner Sätze begleitete. Ich erinnere mich, gefragt zu haben, wo ich mich befinden würde, und ich höre in diesem Augenblick Mr. Fullers unruhige Stimme sagen: In der Druckkammer eines Schiffes, der Seatown! Er setzte hinzu, dass er sich bei allem, was ihm heilig sei, von diesen Walen da draußen niemals fertig machen lassen würde. Er sagte: Seien Sie ein Mann, Ellis! Das war sein Schlusswort. Das war das Letzte, was ich von Mr. Fuller persönlich hörte. ~
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10.42 a.m. Mrs. Anderson kam sofort zur Sache. Keine Tonaufnahmen, sagte sie, keine Bildaufnahmen, wir haben ihr Diktiergerät eingezogen. Parasiten, Mr. Ellis? Haben Sie Grippe? Angewohnheiten, die Sie nicht kontrollieren können? Rauchen Sie? Trinken Sie? — Ich höre ihre helle, schöne Stimme, nah, so nah, als wurde sie gerade in diesem Augenblick zu mir sprechen, nüchtern, sachlich, die Verlesung einer Checkliste, eines Protokolls, das sie nicht wirklich zu interessieren schien. Ich kann Ihnen nicht folgen!, sagte ich, ich kann mich nicht erinnern, wie ich hier her gekommen sein könnte. Mrs. Anderson nickte verständnisvoll, flüsterte, dass man mich getragen habe. Ich sei, fuhr sie vor fort, noch nie zuvor derart gründlich von innen und außen gereinigt worden, während ich schlief. ~
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10.58 a.m. Immer wieder Ihre kühle Stimme in meinem Kopf. Verstehen Sie, Mr. Ellis! Wir haben Sie ausgeschaltet, haben Ihr Bewusstsein gelöscht. Wir mussten sehr tief gehen, verstehen Sie, Magen, Lunge, Mr. Ellis! Weswegen, fragte ich, weswegen diese Sorgfalt im Umgang mit Gästen? Mrs. Anderson erläuterte, alle Mitglieder der Familie Callas seien außerordentlich sensibel. Hören Sie zu, Mr. Ellis. Sie sind gesund! Sie sind außerdem zu einem nahezu sterilen Mann geworden. Mrs. Callas wird Sie empfangen. Genießen Sie die Zeit mit einem wunderbaren Wesen, es ist selten, dass Mrs. Callas Besucher empfängt! ~
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11.15 a.m. Mrs. Anderson, kurz vom Bildschirm verschwunden, kehrte noch einmal zurück. Ob ich Opernschauspiele lieben würde, wollte sie wissen. ich erinnere mich, wie ich mit heiserer Stimme antwortete, dass ich nicht eigentlich wissen würde, wer Mrs. Callas sei, nur soviel, dass sie einmal bedeutend gewesen sein muss, berühmt, sehr wertvoll für die Kultur der Menschheit. Da waren noch ein paar weitere, schnelle Fragen, und ich dachte, während ich Mrs. Anderson lauschte, dass sie reizend sei, hübsch und streng. Und da war das Hämmern gegen den Boden des Schiffes, das mich leise zu beunruhigen begann. ~
Skizze der Seatown. Druckkammerabteile,
die von Personen der Callasserie bewohnt
wurden, in dunkelgrauer Markierung.
11.52 a.m. Anstatt von der Ursache der hämmernden Geräusche zu erzählen, referierte Mrs. Anderson über Wassertiefen und Druckverhältnisse, über das Blut menschlicher Wesen, über die Chemie der Gase. Ich sei, dozierte sie, seit Stunden in einer Luftdruckkammer, ich würde mich einerseits noch immer an Bord der Seatown befinden, anderseits sei ich nur wenige Meter von ihr entfernt, in einem Tank, in einem Gehäuse, das unter hohem Druck stehe. Stellen Sie sich vor, es ist als würden Sie tauchen, Ellis, in 500 Metern Tiefe tauchen. Achten Sie auf die Zeit, kehren Sie so schnell wie möglich zu mir zurück, damit Sie keinen Schaden nehmen. Das ist eine Anweisung! ~
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ATLANTIK 3.05 p.m. Wieder sind wir aufgebrochen, fahren nordwärts. Ich habe zwei Stunden geschlafen, dann seekrank, dann wieder sanft, auch das Meer sanft, wie Mrs. Andersons Haut sanft in meinen Gedanken, als sie noch lebte. Einmal hielten die Wale an, weiß der Himmel warum, rasteten für eine Stunde. Dann ging es weiter. ~
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3.15 p.m. Ruhige See, leichter Wind aus Südost, etwas Bewölkung. 25 Knoten Fahrt, kein Schiff, kein Flugzeug. Mrs. Anderson intakt, keinerlei Raubfische. Ich habe allen Mut aufgebracht. Ich habe sie auf den Rücken gedreht. Da war flüchtig der Gedanke, sie zu mir in die Insel zu holen. Aber die Luft ist zu warm, ist wärmer als das kühler werdende Wasser des Meeres. Habe ihren Kopf mit einer Rettungsweste verzurrt, habe Westen an Füßen und Händen angebracht, auch um den Bauch herum, der eine blaugraue Farbe anzunehmen beginnt. Es ist eine verdammte Geschichte. Unlängst noch habe ich mit ihr gesprochen, wenige Stunden sind seit unseres Gesprächs erst vergangen. Ich habe den Eindruck, sie höre mir zu. Ellis, sage ich: Das ist eine Täuschung! Das ist eine Täuschung! ~
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3.25 pm. Nie zuvor habe ich an das Ende meines Lebens gedacht. Nie zuvor habe ich einen Menschen gesehen, der nicht mehr. lebte. Nie zuvor war ich gefangen gewesen. Ja, eine verdammte Geschichte. — joe ellis hier — joe ellis — rufe london — rufe london — das ist ein notruf — london bitte kommen — rufe london — rufe international metamorphosis observer — may — day — may — day — seatown gesunken — befinde mich auf rettungsinsel h/758 — auftrag ausgeführt — habe ginger callas gesprochen. — notiere meinen bericht vom besuch der ms seatwon. — mrs. anderson, June, ist tot. ~
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3.45 p.m. Mrs. Anderson bewegt sich. Ich stelle fest, Mrs. Anderson bewegt sich im Rhythmus der Wellen. Ich werde ihre Haut verteidigen, so gut ich kann. Ich schwöre, ich werde sie nach Hause bringen. Als sie noch sprechen konnte an Bord der Seatown, regte sie an, ich solle durch das Fenster der Druckkammertüre spähen, Mrs. Callas würde mich bereits erwarten. Und so spähte ich unverzüglich durch das runde Fenster. Ich begegnete Mrs. Callas rechtem Auge. Und da war ein Radgriff in der Mitte der Tür, der sich drehte. Ich hörte das Geräusch entweichender Luft, als würde eine Flasche geöffnet. Ein schwerer Wind strömte mir entgegen, ein nach Blüten duftender Wind, warm und feucht. Dann eine Stimme, Mrs. Callas sprechende Stimme, wundervoll, Wort für Wort, Satz für Satz. ~
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4.00 p.m. Kommen sie doch mal her, Ellis, helfen sie mir! Also drückte ich gegen das eiserne Schott, das schwer war, das sich nur widerwillig bewegen ließ, als sei es eine lange Zeit nicht geöffnet worden. Da war ein Raum, ein unerwartet großer Raum, und warmes Licht, warm wie die Luft. Da waren der Schatten eines rotierenden Ventilators und wieder das dunkle, leuchtende Holz der Wände, von dessen Glühen ich bereits erzählte. Und da war nun Mrs. Callas in meiner nächsten Nähe. Sie stand in der Mitte des Raumes, noch etwas vorsichtig, wie mir schien, und betastete mich von oben bis unten mit ihren dunklen Augen. ~
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4.10 p.m. Plötzlich streckte sie beide Arme nach mir aus und rief: Welcome, Mr. Ellis, Welcome in Callas’ Box! Langsam kam sie auf mich zu. Sie war von großer Statur und schlank und trug ein schwarzes Sommerkleid, das bis zu ihren Knöcheln reichte. Mrs. Callas duftete nach Teig, nach Madeleines, nach Blüten, und sie schob diesen Duft vor sich her, wie eine Welle. Mr. Ellis, wie fühlen Sie sich?, wollte sie wissen, wie geht es Ihren Ohren? Ich bemerkte, dass es noch etwas knistere in meinem Kopf. Das geht bald vorüber, antwortete sie, und dann doch mit ernster Stimme, Uhrenvergleich, Mr. Ellis, Uhrenvergleich! Ich will Sie hier raus haben, lang ehe ihre Zeit abgelaufen sein wird. Haben Sie verstanden, Ellis? ~