Fortsetzung eines Berichtes des Reisejournalisten
Joe Ellis, der seinen geplanten Besuch des Laborschiffes
MS Seatown verwirklichen konnte. Seine Zeugnisse wurden
auf einer Funkschreibmaschine entdeckt. Joe Ellis erzeugte
Strom für seine Schreibmaschine mittels einer Kurbel.
4.22 p.m. Das also war Mrs. Callas leibhaftig, großartige Erscheinung, offen und herzlich. Sie führte mich, als lebte sie in einem Museum, durch ihre Räume, als lotse sie Tag für Tag Besucher durch ihre persönlichen Zimmer, um Fragen zu beantworten, die immer gleich und immer in derselben, zeitlosen Ordnung an sie gerichtet würden. Wie lange leben Sie bereits hier? Wie ist es nur möglich so viele Jahre in diesem engen Behälter zu existieren, ohne krank zu werden? Aber Mr. Ellis, höre ich Mrs. Callas scherzen, das ist doch eine sehr große Wohnung, in der ich lebe. Nur wenige Menschen verfügen über eine Wohnung, die geräumig ist wie diese. Ich verfüge über einen riesigen Garten, fuhr sie fort, darf ich fragen, wie groß denn das Zimmer ist, in dem Mr. Ellis sein privates Leben fristet? Sie machte ein kräftiges Geräusch, hell, nicht schrill, ein Geräusch von Sand und Rauch . ~
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4.38 p.m. Wie wir so gingen, um von dem einen Zimmer in ein anderes Zimmer zu gelangen, hakte sie sich bei mir unter, sodass ich ihre Körpergröße unmittelbar zu spüren bekam, immerhin überragte sie mich um die Höhe eines halben Kopfes. Ich erinnere mich, ihre Haut wirkte kühl, als habe sie eine lange Zeit in kaltem Wasser zugebracht. Da waren drei Etagen, die Mrs. Callas bewohnte, und es wurde frisch, wenn wir uns abwärts, und es wurde warm und feucht, wenn wir uns aufwärts bewegten. Da waren Aufzüge, schmal wie Zigarren. Und da war das Schlagen wieder gegen den Boden des Schiffes, entfernt an dieser Stelle, gedämpft, aber beständig, immer und immer wieder, ein gewaltiger Herzschlag so rhythmisch. ~
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4.52 p.m. Zunächst fuhren wir abwärts. Wir fuhren den Schlägen entgegen, wir fuhren in das Magazin der Box, das tief im Inneren des Schiffes geborgen lag. Dort war es kalt, wie in einem Kühlschrank, kalt und düster und ich begann zu frieren. Auch Mrs. Callas an meiner Seite war schmal geworden, ihr Gesicht, ihre komplette Erscheinung, als hätte sie nicht sichtbare Flügel angelegt. Da war ein Flur, eine Flucht, und da waren Kabinen und Türen von kräftigem Glas und Spuren von Eis an den Wänden. ~
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5.01 p.m. Etwas summte oder brummte, und ich höre mich noch, wie ich mich vorsichtig nach der Ursache dieses Geräusches und des Eises an den Wänden erkundigte. Was, fragte ich, was Mrs. Callas, haben Sie hier eingefroren? Mrs. Callas antwortete mit ruhiger Stimme: Die Welt, Mr. Ellis, wenn sie so wollen, die Welt, Menschen, Tiere und andere Dinge des Lebens. Verstehe, sagte ich. Das glaube ich nicht, Mr. Ellis, entgegnete Mrs. Callas, ich glaube nicht, dass Sie verstehen, was ich ihnen erzählen werde. Sie sah mich lächelnd an wie eine Mutter ihren Sohn. Ich glaube, Sie haben keine Vorstellung davon, was hier aufbewahrt wird in unserer nächsten Nähe. Sehen Sie, in diesem Gehäuse haben wir Afrika sortiert, dort Asien und hier Europa. ~
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5.15 p.m. Sie zog mich mit sich fort durch den Flur. Baumwesen, sagte sie mit Stolz in der Stimme, Echsen, Farne, Menschen, Männer und Frauen, Vögel, Beutelratten hier, Nashörner dort, und Spinnentiere, alle gefroren, ihr Code. Erstaunlich, sagte ich. So ist es, flüsterte Mrs. Callas. Und wie sie so zu mir herabsah, dachte ich: Weiß Gott, ein Paar sehr schöne Augen. Sie sprach sanft und ihr Blick war plötzlich dunkel geworden, kurz, für einen Augenblick nur, als wollte sie auf der Stelle noch verschwinden. Das ist doch sehr unheimlich hier, finden Sie nicht, Mr. Ellis? Die Welt fürchtet sich vor uns, vor diesem Schiff. Mrs. Callas räusperte sich. Sie sah mich prüfend an. Ihre Augen tasteten über mein Gesicht, als wollte sie ein Verzeichnis meiner Erscheinung fertigen, jedes Merkmal, um sich an mich erinnern zu können. Verstehen Sie, Mr. Ellis, fuhr sie fort, wir haben unlängst das chemische Labor unserer Company über Bord geworfen. Wir haben nicht lange gezögert. Wir haben Mikroskope, Kolben, Pinzetten, Pulver und andere Essenzen an den Indischen Ozean übergeben. Seither hoffen wir auf Vergebung, auf Rettung. ~
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5.22 p.m. Alles haben wir über Bord geworfen, fügte Mrs. Callas hinzu, jedes verfügbare Werkzeug, Stück für Stück. Sie kam wieder dicht an mich heran, und der Duft von Madeleines stieg mir in die Nase. Die Speicher haben wir erhalten, Codes und Proben, natürliche Proben und gestaltete Proben, und Rechenmaschinen haben wir für uns gesichert. Wir haben sehr schnelle Maschine hier an Bord, ja, Mr. Ellis, das können Sie mir glauben. ~
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5.37 p.m. Unvermittelt setzte das Schlagen gegen den Boden des Schiffes wieder ein. Mrs. Callas bebte. Ein Zittern, ein Flattern hatte ihr linkes Auge befallen, eine Bewegung, die sie nicht länger bändigen konnte, als habe sich ein Tier in ihrer Augenhöhe eingenistet, welches sich im Rhythmus der Stöße gegen die Bordwand bewegte. Erstaunlich, sagte ich, ganz erstaunlich, Mrs. Callas! In diesem Augenblick spürte ich Zorn aufsteigen, heftige Wut, ich versuchte diese Wut zu kontrollieren, doch mit jedem Schlag gegen den Boden, wurde sie neu entzündet. Ich zischte: Mr. Fuller behauptet, das seien Wale, diese Geräusche seien von Walen erzeugte Geräusche? Tatsächlich, sagte Mrs. Callas und lächelte, behauptet Fuller das? ~
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5.58 p.m. Mrs. Callas trat einen Schritt zurück und betrachtete mich erneut, als würde sie mich fotografieren. Statt der schweren Schuhe, die ich am Abend meiner Ankunft getragen hatte, stand ich in leichten, hellen Leinenschuhen vor ihr. Die Hose eines Herrenanzuges, die ich neben Schuhen und Hemd in der Schleuse vorgefunden hatte, war etwas zu lang, aber das Hemd saß tadellos, die Ärmel waren bis zu den Ellbogen hochgeschlagen, ein Streifen weißer Haut leuchtete über meinem Handgelenk. Nichts trug ich bei mir, nichts von persönlicher Art, keinen Bleistift, kein Notizbuch, keine Uhr. Ihre Leute sind nervös, sagte ich. So, so, antwortete Mrs. Callas, sind sie das? ~
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6.08 p.m. Langsam kam sie wieder näher, wirkte entschlossen. Sie sagte: Was Sie hören, sind Geräusche der Zuneigung. Sie spielen mit uns. Unsere Seatown-Wale spielen mit uns. Kämpferisch blickte sie mich an. Unser Problem ist, dass sie sehr groß geworden sind, Mr. Ellis, sehr groß sind sie geworden. Sie haben keine Vorstellung davon, was ich meine, wenn ich sage, unsere Wale sind groß geworden. Sie stieß etwas Luft durch ihre Nase aus und schloss die Augen so weit, dass sie nur noch Schlitze waren. ~
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6.12 p.m. Mrs. Callas Stimme hatte einen scharfen Ton angenommen, ihre Stimme schepperte: Ich kenne diese Wale da draußen, da waren sie noch eine Überlegung, ein Entwurf, ein Vorhaben. Ich sehe sie vor mir, Kinder, fünf Metern in der Länge und dunkel gefärbt und schlank. Sie sind gereift. Jetzt sind sie möglicherweise bald erwachsen und ich meine, dass sie sehr gut gelungen sind. Noch näher kam sie heran und ich bemerkte, dass Mrs. Callas behaart war, ein feiner Pelz, ein helles, feuchtes Fell bedeckte ihr Gesicht. Sie sind Monster geworden, Mr. Ellis, Monster, die uns lieben. Hören Sie, wie sehr sie uns lieben? Mrs. Callas schloss ihre Augen. Ich nehme an, flüsterte sie, die Wale halten unser Schiff für ihre Mutter. Ich bemerkte, dass diese mutige, diese tapfere Frau sich beherrschen musste, sie wollte gehen, sofort wollte sie gehen. Sie packte mich am Arm und zog mich mit sich fort durch den Flur in Richtung des Aufzuges. ~
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ATLANTIK 8.05 p.m. Wir sind langsamer geworden. Der Himmel ist von einem wunderbaren, leuchtenden Blau. Eine friedliche Stimmung um uns her. Die Wale haben Rettungsinsel h/758 in ihre Mitte genommen, schwimmen in dichter Formation, sprechen in singenden Tönen, als verhandelten sie, als würden sie einen neuen Kurs beraten. Ihr Pfeifen, so kräftig, dass es mir in den Magen fährt. Die Luft ist kühl geworden. ~
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8.15 p.m. joe ellis — joe ellis — rufe london — rufe london — das ist ein notruf — may — day — may — day — das ist ein notruf - london — bitte kommen — rufe london — rufe international metamorphosis observer — may — day — may — day — seatown gesunken — befinde mich auf Rettungsinsel h/758 — auftrag ausgeführt — habe ginger callas gesprochen. — notiere meinen bericht vom besuch im bauch der seatown — bitte melden. ~
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4.15 a.m. Nacht. Ich habe erschöpft geschlafen, bald wieder Dämmerung. Die Wale ruhen. Weit draußen das Wasseratmen der Patrouille. Ich verzeichne seit einer Stunde bereits Postionen meiner Gedanken mit Fettstift auch auf der Innenseite der Insel. Ich schreibe, um nicht zu vergessen. Ich schreibe, um Zeit zu gewinnen. Ich habe auf halber Höhe angesetzt, schreibe eine Linie im Kreis herum. Ich habe zunächst geschrieben: Aufzug, dann Garten, dann Kinderzimmer. Ich habe den Kurs meiner Erzählung vorausgedacht. Ich habe Ruhe verordnet: Ruhe Ellis! ~
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4.58 a.m. Ich bewege mich so vorsichtig wie möglich. Ich schreibe 10 Sätze, sehr leise und behutsam schreibe ich 10 Sätze, und schon ist meine Schreibmaschine zu schwach geworden, um weiter schreiben zu können. Dann kurbele ich. Ich kurbele so lange, bis ich wieder ausreichend Strom erzeugt habe, um meine Nachricht senden zu können. Ich kurbele 5 Minuten für 10 kurze Sätze. Ich kurbele 3 Minuten, um die Nachricht zu senden. Ich habe den Eindruck, die Wale haben noch immer keinen Verdacht geschöpft. ~
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5.30 a.m. Nach und nach, wenn ich denke, wenn ich an Mrs. Callas denke, komme ich zu der Einsicht, eine Rettung wäre möglich gewesen. Noch vor dem Aufzug stehend, wäre es möglich gewesen, sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, das Schiff sofort zu verlassen. Ich bemerkte, dass sie unruhig wurde, sobald das Hämmern derart heftig durch den Körper des Schiffes jagte, dass wir selbst erschüttert wurden. Dann suchte sie meine Nähe, kurz darauf trat sie wieder einen Schritt zurück und leuchtete und glühte vor Erregung und schien jede Furcht verloren zu haben. Sie lachte und zog mich mit sich fort durch den Flur: Sehen Sie, Mr. Ellis, sehen Sie, ist das nicht merkwürdig, ist das nicht wundervoll? Schauen Sie, was Fuller fabrizierte! ~
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6.08 a.m. Wir warteten gerade vor dem Aufzug. Mrs. Callas Hände gruben sich in meinen Unterarm. Schauen Sie sich das an, rief sie, kommen Sie näher! Sie deutete auf eine Wand. Da waren Schnecken, winzige Schnecken von grauer Farbe, eine lebende Tapete, schillernd, Millionen zarter Mollusken. Die Luft roch nach geschmolzenem Zinn, als habe man die Tiere fest an die Wand gelötet. Nein, nein, höre ich Mrs. Callas rufen, diese Schnecken sind die Wand, eine Wand von Schneckenkörpern. Überall, Mr. Ellis, sind diese Wände von Mollusken um uns her, sie sind das innere Gehäuse der Box, in der wir leben. ~
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6.22 a.m. Wenn Mrs. Callas je an Flucht gedacht haben sollte, dann hatte sie Flucht in diesem Augenblick vergessen. Sehen Sie, Mr. Ellis, sehen Sie sich das an. Sie fressen Stäube, Sporen, Pilze, auch Bakterien und Viren. Ihre hinteren Abteile sind nach außen gerichtet. Sie sollen sehr alt werden, siebzig Jahre und älter, behauptet Mr. Fuller. Mrs. Callas schnalzte mit der Zunge. Ich vertraue Mr. Fuller, ich werde niemals glauben, dass wir sinken werden. Für einen Moment schwieg sie, dann flüsterte sie, also wollte sie mir ein Geheimnis offenbaren: Hören sie, Mr. Ellis, 1 Mal an jedem Tag wandert ein sonores Geräusch, ein Brausen durch unsere Zimmer. In einer langsam reisenden Welle bewegt sich dieser Ton über alle Wände hin. Genau in jener Sekunde, da der Ton hörbar wird, entleert jedes der Tiere seinen Darm, weiß der Teufel, wie Fuller das programmiert hat. Musik ist das, Mr. Ellis, reinste Musik! ~
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6.45 a.m. Wir warteten. Seite an Seite stehend warteten wir und bebten unter dem Donnern, das vom Rumpf des Schiffes her zu hören war. Ein blau schillernder Käfer saß vor uns an der Tür des Aufzuges, auch der Käfer bebte. Ich sehe Mrs. Callas Hand, ihre schneeweiße Hand, die an dem Panzer des Käfers so lange behutsam drehte, bis das Tier, Fuß um Fuß seinen Halt aufgegeben hatte. Sie nahm den Käfern in beide Hände und wärmte ihn mit ihrem Atem. Coleoptera calosoma batera, dozierte sie, eigentlich ein schneller Läufer. Es ist zu kalt hier. Manchmal verirren sie sich. ~
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7.05 a.m. Warum, Mrs. Callas, sind Ihre Leute so nervös, fragte ich. Das ist deshalb, antwortete sie, weil wir alle seit langer Zeit sehr schlecht schlafen. Ihre Stimme war wieder ernst geworden. Verstehen Sie, Mr. Ellis, seit über einem Jahr sind wir unterwegs. Meine Leute kommen nur selten an Land. Und wenn sie an Land gehen, müssen sie sich verstecken. Wir stehen unter Quarantäne. Mrs. Callas schüttelte den Käfer in ihren Händen vorsichtig hin und her. Nach wie vor sind wir staatenlos, geächtet, verfolgt, ausgestoßen, meine Schwestern, unsere Kinder, meine Besatzung und ich. Verstehe, antwortete ich. Mrs. Callas richtete eine verächtliche Handbewegung gegen die Decke. Nichts verstehen Sie, Ellis, nichts verstehen Sie. Sie schwieg für einen kurzen Moment, dann sagte sie mit leiser Stimme: Hören Sie zu. Unsere Company wurde eliminiert. Wir haben jede Forschung eingestellt. Trotzdem werden wir behandelt als seien wir Elende. ~
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7.27 a.m. Mrs. Callas lief vor mir auf und ab. Ihre Stimme war laut geworden. Es ist gestattet Nahrung aufzunehmen, Wasser, Treibstoff. Finster sah sie mich an, schlug mit einer Faust gegen die Tür des Aufzuges und fluchte. Wenn wir uns ankündigen, wenn wir uns nähern, um Wasser, um Nahrung, um Medikamente aufzunehmen, ist alles schon vorbereitet. Man geht sehr gewissenhaft vor. Man hat unsere Ware auf einen Ponton gestellt und sich zurückgezogen, niemals sehen wir ein menschliches Wesen persönlich. Wenn wir dann geladen haben und weitergefahren sind, zündet man alles an, was von uns zurückgelassen wurde. ~
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7.50 a.m. — Wir beobachten den Schein der Brände noch aus großer Entfernung, fuhr Mrs. Callas fort. Es ist schrecklich, Mr. Ellis. Wir sind keine Gefahr, und doch werden wir behandelt, als wären wir sehr gefährlich. Mrs. Callas schwieg. Sie schien wie versteinert, kein Licht, nicht das geringste Licht, nicht der geringste Ausdruck eines Gefühls war an ihr noch zu finden. Kein Ausweg, fuhr sie fort, es existiert kein anderer Ausweg, als der Ausweg, uns zwangsweise untersuchen zu lassen. Das kommt nicht infrage! Weshalb, wollte ich wissen, weshalb diese Vorsicht. Ich fürchte, man würde Hand an uns legen, antwortete Mrs. Callas. Sie senkte den Kopf. Und wieder, ich erinnere mich, zitterte das kleine Tier in ihrer Augenhöhle, Mrs. Callas musste sich beherrschen, um ihre Fassung nicht zu verlieren. ~
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8.08 a.m. Erneut schlug sie mit einer geballten Faust gegen die Türe des Aufzuges: Verdammt, wir sind alle sehr müde geworden. Wir können unsere Routen nicht länger frei bestimmen. Die Wale sind stärker geworden als unsere Maschinen. Sehen Sie selbst, der Rumpf des Schiffes verzieht sich, unsere Türen klemmen. Die Panzerung ihrer Schädel ist massiv, sodass sie uns bald gefährlich werden könnten. Nicht nur Fuller ist ängstlich. Wir alle haben Angst. Wir versuchen mit ihnen zu sprechen. Sie antworten nicht. ~
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ATLANTIK 9.15 a.m. Wieder rasten wir. Einer der Wale, ein jüngeres Tier, reichte mir soeben frischen Fisch, kleinere Exemplare, Sprotten vielleicht. Ich vermochte Zähne im geöffneten Maul des Wals zu berühren, zwei Reihen flacher, breiter Zähne, kühle Luft wehte dem Wal aus dem Schlund. Auch die Haut des jungen Tieres war kalt und hart. Dann ein weiteres junges Tier. Noch einmal Sprotten, noch einmal Tang. Gehe sehr vorsichtig vor. Ließ ihre Geschenke, sobald sie abgetaucht waren, leise von der Insel gleiten. ~
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9.27 a.m. Seit zwei oder drei Minuten haben wir wieder Fahrt aufgenommen. Neuer Kurs. Wir folgen einer nordwestlichen Linie. Am Horizont war kürzlich ein Tanker zu sehen. Riesiges Schiff. Die Wale haben Konfrontation vermieden. Hoffe auf ein Flugzeug. Der Himmel, bedeckt. Es ist noch kühler geworden, leichter Seegang. Das Wasser, grau. Dunkelgrau. Salzige Luft. Gischt. Warte darauf, dass ich von Übelkeit angefallen werde. Mrs. Anderson intakt. Ich habe den Verdacht, sie könnte bald in einen Zustand beginnender Verwesung fallen. Habe Befestigungen geprüft. Etwas Wasser getrunken. Auf Nahrung verzichtet. Habe mich fest vertäut, um Notdurft verrichten zu können. Ich schöpfe Hoffnung. ~
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9.45 a.m. joe ellis — joe ellis — rufe london — rufe london — das ist ein notruf — may — day — may — day — das ist ein notruf — lndon — bitte kommen — rufe london — rufe international metamorphosis observer — may — day — may — day — seatown gesunken — befinde mich auf rettungsnse h/758 - auftrag ausgeführt — habe ginger callas gesprochen. — notiere meinen bericht vom besuch im bauch der seatown — bitte melden. ~
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9.55 a.m. Sobald ich an Mrs. Callas denke, schöpfe ich Hoffnung. Großartige Erscheinung. Ich werde überleben. Ja, das werde ich. Die Wale sind mir gewogen. Sie wollen mich erhalten, sie füttern mich. Sie werden trinkbares Wasser für mich aus der Tiefe holen. Ich werde überleben. Ich, Joe Ellis, werde überleben. Wenn ich an Mrs. Callas denke, gewinne ich an Zuversicht. ~
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10.15 a.m. Mrs. Callas wie sie einen Käfer schüttelt. Ich spüre sie neben mir, als wäre sie hier. Ich spüre ihre Hände, die mich vor den Aufzug ziehen. Ich kann nicht sagen, wie lange wir dort unten waren im Magazin der Box. Ich habe für die Zeit jedes Gefühl verloren. Irgendwann fuhren wir aufwärts, vom unteren Geschoss in die mittlere Etage des Schiffes. Dort stiegen wir um. Da war eine weitere Tonne. Die Wände der Tonne waren warm, als wären sie beheizt. Käfer und Falter saßen dort fest und bebten mit den Flügeln. Die Luft roch bitter, und es war plötzlich so schwül und so feucht, dass ich zu schwitzen begann. ~
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10.25 a.m. Auch Mrs. Callas schwitzte. Ich bemerkte, wie sie mich aus der Nähe betrachtete, dass sie meinen Augen folgte, wie sie über ihren Körper wanderten, Augen, die ich nicht länger zu kontrollieren vermochte. Soll ich ihnen etwas verraten?, fragte Mrs. Callas, ich liebe das Meer, Mr. Ellis, das kühle Meer, aber das Meer ist für mich nicht erreichbar. Nur wenige Meter entfernt, und doch ist es nicht erreichbar. Verstehen Sie, Mr. Ellis? Sie kam so nahe heran, dass ich ihren Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. Ich kann nicht schwimmen, Mr. Ellis, flüsterte sie, was halten Sie davon, dass ich nicht schwimmen kann? Das ist erstaunlich, sagte ich, Sie sind Griechin und können nicht schwimmen. So ist es, sagte Mrs. Callas. Man erzählt, sagte ich, Sie würden dieses Schiff nie verlassen. Eine ganz unglaubliche Geschichte. Haben Sie Schwestern, Mrs. Callas? ~
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11.01 a.m. Ich habe vier Schwestern, antwortete Mrs. Callas. Ich liebe meine Schwestern. Sie lachte mit glockenheller Stimme und fuhr mit ihren Händen durch ihr kräftiges, dunkles Haar. Wir haben alle das gleiche Alter. Als wir noch jung gewesen waren, als wir noch auf dem Oberdeck der Seatown in leichten Sommerkleidchen Matrosen hetzten, sahen wir einander sehr, sehr ähnlich. Sie schwieg für einen kurzen Moment, sah mich dann fragend an. Das wollten Sie doch wissen, Mr. Ellis? Hatten Sie eine Schule an Bord der Seatown?, erkundigte ich mich. Eine Schule hatten wir, antwortete Mrs. Callas, eine harte Schule. Die beste Schule, die man zu jener Zeit bekommen konnte. Verstehen Sie, Mr Ellis, man hielt uns für sehr kostbare Ware. Wieder schwieg Mrs. Callas. Wir standen Auge in Auge in der Enge der Kabine. Das Licht begann zu flackern, ein kurzes Hämmern, ein furchtbarer Schlag. Dann plötzlich Stille, dann das Pfeifen von Vögeln. ~
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11.15 a.m. Ich erinnere mich, wie sich die Türe des Aufzuges öffnete. Wir traten in einen subtropischen Garten hinaus. Feuchte, den Atem lähmende Luft. Ein paar kreischende Sittiche schossen auf uns zu, drehten kurz vor uns ab und zerstoben im Dickicht des Waldes. Von den größeren der Pflanzen, deren Kronen sich dicht bis unter das Dach des hell ausgeleuchteten Saales drängten, tropfte Wasser. Zu unseren Füßen wanderte ein Volk rotbrauner Ameisen über einen hellen, sandigen Boden. ~
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11.22 a.m. Jenseits des Aufzuges, dessen Tür sich sofort hinter uns schloss, war die Wand des Gehäuses dicht von Schnecken bedeckt. Sie waren groß wie Eier einer Taube. Auch noch aus größerer Entfernung, konnte ich erkennen, dass sie sich bewegten, dass sie mit feinen, glasigen Tentakeln die Luft betasteten. Ich hatte nicht das Gefühl einen Urwald betreten zu haben, befand ich mich doch im Inneren eines Schiffes, dessen Bordwände jeden Wald nach oben und zur Seite hin begrenzten, aber ich dachte, dass dieser Garten einem Urwald sehr ähnlich sei und dass es sehr viel Muhe gekostet haben musste, ihn hierher an Bord zu bringen. ~
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11.55 a.m. Mrs. Callas indessen war ein paar Schritte voraus gelaufen. Dann drehte sie sich zu mir herum, verbeugte sich, indem sie die Arme zu beiden Seiten weithin öffnete und rief: Mr. Ellis, voilà, mein Garten. Sie sah hinreißend aus, wie so vor ihrem tropfenden Dschungel stand, eine Griechin, die nicht schwimmen konnte, eine Griechin, in einem langen schwarzen Sommerkleid. Da waren noch helle, flache Schuhe an ihren Füßen, und ein Vogel, der sich auf ihrem Kopf niedergelassen hatte und an ihren Haaren nagte. Ein paar prächtige Echsen hetzten über den Boden auf sie zu, als hätten sie Mrs. Callas bereits seit längerer Zeit vergeblich erwartet. ~
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12.15 p.m. Ich rief: Erstaunlich, Mrs. Callas, ganz erstaunlich. Sind Sie oft hier?, wollte ich wissen. Jawohl, sagte Mrs. Callas, ich wohne hier, und ich schlafe und ich esse hier. Von Zeit zu Zeit besuche ich meine Schwester und meine Kinder, sie leben gleich unter uns, aber ich kehre immer wieder sehr gerne in meinen Garten zurück, um mich zu erholen. Der kleine Vogel war unterdessen an ihr herabgeklettert. Er saß auf dem Rücken ihrer linken Hand. Mrs. Callas schaukelte ihn vor ihrem Gesicht auf und ab, der Vogel kreischte vor Vergnügen und stellte einen Kamm aus roten Federn senkrecht auf den Kopf. Haben sie nicht Sorge, sie könnten sich infizieren, fragte ich, Mrs. Anderson behauptete, Sie seien überaus empfindlich, Sie alle hier unten, Sie verfügten über keinerlei Abwehrkräfte? ~
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0.33 p.m. Mrs. Callas rechte Hand vollführte eine müde Geste, nahezu herablassend, als hätte ich eine Frage gestellt, die sie langweilte, die sie enttäuschte. Mr. Ellis, sagte sie, alles, was Sie hier sehen war für lange Zeit in Quarantäne gewesen, jede Fliege, jeder Käfer, dieser Vogel hier und meine Echsen, jede einzelne der Orchideen, jede der Palmen, jedes Gramm des Bodens, alles war unter Quarantäne gewesen und mit Vorsicht an den hohen Luftdruck unserer Box gewöhnt. Mr. Ellis, rief sie aus, indem die ihre Augen verdrehte, wie glauben Sie wohl, würde dieser Vogel hier aussehen, wenn er ohne Druckausgleich meiner Atmosphäre ausgesetzt worden wäre. Mrs. Callas, sagte ich, Uhrenvergleich! Dann schlugen wir uns Jenseits des Pfades ins Dickicht. ~
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0.55 p.m. Gleißendes Licht strahlte in die Kronen der Bäume. Aber hier unten, auf den Wegen, über die wir wanderten, war es schattig. Mrs. Callas rastete da und dort, um ein paar kostbare Blüten in ihrem Aufbau zu erläutern. Da war eine Laube. Und da waren eine Hängematte, ein Kühlschrank, ein Tisch, vier Stühle, ein paar Bücher, Calvino und Perec. Und da waren noch Gläser und Tassen, die klirrten, als wir uns setzen. Was wollen Sie trinken, Mr. Ellis? Tee, Kaffee, heiße Zitrone? Sie schlenderte zum Kühlschrank, sah mich über ihre Schulter hinweg an, oder Holunderblütentee vielleicht? Wir haben starken Holunderblütentee! Und wie sie zurückkehrte, bemerkte ich ihre unruhigen Finger, die über die dampfende Karaffe tasteten, als wären sie Tiere, die vor der Hitze des Gefäßes flüchteten. ~
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1.15 p.m. Der Vogel war nun doch die kurze Strecke von ihrer Schulter zu mir herübergeflogen. Er knabberte an meinen Ohren. Zwei Echsen ruhten bewegungslos mit geschlossenen Augen im Sand. Wissen Sie überhaupt, Mr. Ellis, dass ich einige Ihrer Arbeiten gelesen habe?, fragte Mrs. Callas. Ihre Geschichten aus der Warenwelt, hinreißende Geschichten. Ich beobachtete, wie sie gebückt vor dem Kühlschrank stand. Und während ich sie betrachtete, hatte ich den Eindruck, mich in einem Traum zu befinden. Von Zeit zu Zeit warf sie einen vorsichtigen Blick über Ihre Schulter, dann kam sie zurück und ließ sich in den Korbstuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches sinken. Ich bemerkte, dass ich mich wohlfühlte in ihrer Umgebung, und ich dachte, dass wir uns bald an die Arbeit machen sollten. Wo sind Ihre Kinder, Mrs. Callas?, fragte ich frei heraus. Unter uns, antwortete sie. Ich würde sie sehr gerne besuchen, sagte ich. Das werden Sie noch, beteuerte Mrs. Callas, auch meine Schwester Mika werden Sie kennenlernen. Sie werden bald etwas Wundervolles über meine Schwester Mika schreiben, meine Kinder und mich persönlich, nicht wahr? Noch etwas Tee, Mr. Ellis? ~
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1.42 p.m. Sie lehnte sich zurück, faltete ihre Hände vor dem Kinn und sah mich an. Wie wollen wir vorgehen?, fragte sie. Klassisch, antwortete ich. Gut, sagte sie und drohte den Vogel, der noch immer auf meiner Schulter weilte. Ein scharfer Pfiff war zu hören, dann schoss das Tier gegen die Decke und verschwand. Los, Mr. Ellis schießen Sie endlich los!, fauchte Mrs. Callas, klassisch, Ellis, klassisch, wie wundervoll, wie lange Zeit habe ich auf so etwas gewartet! Und so begann ich Mrs. Callas zu befragen. Wann sind Sie geboren?, wollte ich wissen. An einem 18. November, einem Sonntag, antwortete Mrs. Callas. Sie sind also ein Sonntagskind, bemerkte ich, war das geplant, war das so eingerichtet oder war das ein Zufall gewesen, Mrs. Callas? ~
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1.55 p.m. Ob ich als Sonntagskind geplant worden bin, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, flüsterte Mr. Callas, ich weiß nicht, wen ich fragen könnte. Ihre Mutter könnten sie fragen, schlug ich vor. Meine Mutter kenne ich nicht, antwortete Mrs. Callas. Hatten Sie denn eine Mutter? Ja, ich hatte eine Mutter, natürlich hatte ich eine Mutter, rief Mrs. Callas. Sie schwieg für einen Moment und als ich fortfahren wollte zu sprechen, unterbrach sie mich mit einer heftigen Bewegung ihrer Hände. Was meinen Sie genau, wenn Sie von meiner Mutter sprechen?, fragte sie. Die Frau, die Sie geboren hat, antwortete ich. Sie meinen eine Frau, die mich ausgetragen und geboren hatte? Genau das meine ich, Mrs. Callas. Meine Mutter kenne ich nicht, sagte Mrs. Callas. Ich fragte unverzüglich nach: Ist die Frau, die Sie nicht kennen, auch die Mutter ihrer Schwestern. Nein, antwortete Mrs. Callas, da waren andere Mütter. Es gab also fünf Mütter für fünf Callas Schwestern? So ist es, sagte Mrs. Callas und schloss ihre Augen. ~
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2.05. p.m. In aller Ruhe lauschte Mrs. Callas meiner Stimme. Nein, antwortete Mrs. Callas, ich weiß nicht, wo unsere Mütter sind, und ich weiß nicht, wie viel ihnen dafür bezahlt wurde, uns auszutragen. Ganz ohne Zweifel haben sie das gegen eine Entlohnung getan, zischte Mrs. Callas. Würden Sie ihre Mutter gerne kennenlernen? Das ist nicht von Bedeutung, erwiderte Mrs. Callas. Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas und sah mir kühl entgegen. Sie tragen einen legendären Namen. Haben Sie jemals daran gedacht, einen anderen Namen anzunehmen? Niemals, rief Mrs. Callas, niemals! Ich kenne Maria Callas nicht, Mr. Ellis, aber ich bewundere sie, ich habe sehr viel über sie gelesen, ich habe ihre Stimme gehört. Eine Schallplatte, aber natürlich. ~
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2.15 p.m. Haben Sie Filme gesehen, die Ihr Vorbild zeigen, fragte ich. Ja, das habe ich, antwortete Mrs. Callas, viele Filme habe ich gesehen. Haben Sie Gemeinsamkeiten entdeckt. Ja, Mr. Ellis, das habe ich. Mrs. Callas lachte. Wir sehen uns ähnlich. Wir haben einen identischen Code, Mr. Ellis, dann muss das so sein, dass wir uns ähnlich sind! Triumphierend setzte sich Mrs. Callas auf ihrem Stuhl zurecht. Sie stützte das Kinn auf den Rücken ihrer Hand. Ich meine auch Gemeinsamkeiten ihres Verhaltens, ihrer Wünsche, ihrer Hoffnungen, ergänzte ich. Ich esse sehr gerne Eis, Mr. Ellis, wenn Sie das meinen, sagte Mrs. Callas. Ich kann auf den Tod keine Hunde verkraften, wenn Ihnen das etwas sagt! Verstehe, wiederholte ich, was wollen Sie damit sagen, Mrs. Callas? Alles beliebig, Mr. Ellis, brummte sie vor sich hin. Sie sah mich über ihren Handrücken hinweg an und zwinkerte mir zu, Mrs. Callas schien sich zu amüsieren. ~
Vermutliche Reiseroute der
Seatownwale nordwärts
Richtung Grönlandsee
ATLANTIK 2.33 pm. Eine dünne Haut von Wasser ist über den Himmel aufgezogen, das Meer in ein mildes, gelbes Licht getaucht. Ich habe den Eindruck, auch die Wale wundern sich über diesen Himmel, über dieses seltsame Licht. Sie haben angehalten, sie liegen seitwärts im Wasser und schauen nach oben. ~
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2.50 p.m. Ich kann nicht verheimlichen, es wird kühler. Habe nach Decken gesucht, vergeblich. Habe zu den Walen gesprochen. Ich habe gesagt: Freunde, es geht nordwärts, wir reisen nordwärts, es wird kühl, Jennifer, bald wird es kalt werden, ich trage nur leichte Bekleidung, es könnte zu kalt werden für ein menschliches Wesen, ich könnte erfrieren. Könnten wir, nicht vielleicht umkehren? — So habe ich gesprochen. Und habe gewartet. Nicht die geringste Änderung des Kurses. ~
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3.05 p.m. Immer wieder frage ich mich, wie ich derart ruhig und gelassen bleiben konnte bisher. Keine Verzweiflung, aber leichte Unruhe. Ich erhoffe ein Flugzeug, ein Schiff, einen Helikopter, vielleicht werden mich die Wale retten, vielleicht haben sie nichts anderes vor, als mich in Sicherheit zu bringen. Vielleicht werden sie mich rechtzeitig nach Island geleiten, oder nach Grönland, oder nach Neufundland, das ist denkbar. Also werde ich weiter hoffen, werde hoffen, diese Geschichte, von der ich berichte, zu überleben. Solange ich lebe, schreibe ich. Ich war zuletzt in Mrs. Callas Garten. Anderson, June, weiterhin intakt. Was wurde ich dafür geben, sie wecken zu können. Wir würden uns wärmen. ~
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3.15 p.m. joe ellis — joe ellis — rufe london — rufe london — das ist ein notruf — may — day — may — day — das ist ein notruf — lndon — bitte kommen — rufe london — rufe international metamorphosis observer — may — day — may — day — seatown gesunken — befinde mich auf rettungsnse h/758 - auftrag ausgeführt — habe ginger callas gesprochen. — notiere meinen bericht vom besuch im bauch der seatown — bitte melden. ~
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3.22 p.m. Mrs. Callas, großartige Erscheinung. Wieder erhob sie sich, schlenderte zum Kühlschrank zurück, holte weiteren Tee und erzählte, während sie Tee und Eis in Gläsern verrührte, dass drei ihrer Schwestern an Land gesetzt wurden, weil sie Mütter geworden waren. War es denn nicht möglich alle Kinder an Bord der Seatown groß zu ziehen, fragte ich. Nein, sagte Mrs. Callas, das war vollständig unmöglich, es wurden zu viele, Mr. Ellis, es wurde zu eng. Aber Sie haben doch ein großes Schiff, antwortete ich. Nicht groß genug, antwortete Mrs. Callas. Sie sah mich finster an und schwieg. Wie konnten Sie an Land gehen? Das hat Anderson organisiert, fuhr Mrs. Callas fort, sie ist sehr talentiert, müssen Sie wissen. Seit 10 Jahren ist sie in meiner Nähe an Bord. Ich glaube, ich liebe diese Frau. Wir haben vier gemeinsame Exkursionen unternommen. ~
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3.32 p.m. Wir haben Exkursionen nur aus einem Grund unternommen, wir mussten meine Schwestern an Land bringen. Und wir mussten uns beeilen, verstehen Sie, Mr. Ellis, es war und ist denkbar, dass wir sinken werden. Wieder schwieg Mrs. Callas. Ich fragte, warum sie denn selbst zurückgekehrt sei auf das Schiff. Erneut kehrte ein Ausdruck schwerer Sorgen in ihr Gesicht zurück. Mr. Ellis, hören Sie genau zu, auch ich habe Kinder. Ich habe Töchter geboren. Meine Töchter sind beschädigt. Ihr Code ist defekt. Meine Kinder altern rasend schnell, Mr. Ellis. Sie sind zu schwach. Sie sind zerbrechliche Wesen. Ich konnte sie nicht allein zurücklassen. ~
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3.38 p.m. Meine Töchter leben in einer anderen Zeit, Mr. Ellis, als wir sie kennen, flüsterte Mrs. Callas. Wieder verfinsterte sich ihr Blick. Meine Töchter, fuhr Mrs. Callas fort, verfügen über keinerlei Abwehr. Jede harmlose Infektion würde sie töten. Ich habe fünf Töchter geboren, zwei, drei, vier, sechs, und sieben Jahre alt, alle haben sie dasselbe Leiden. Wer ist ihr Vater?, fragte ich. Meine Töchter haben keinen Vater, Mr. Ellis. Sehen Sie, sie beugte sich über den Tisch und flüsterte kaum noch wahrnehmbar, wir erledigen das selbst. Sie tippte mit dem Finger vor sich auf die Tischplatte und lächelte mich an. Was, fragte ich, erledigen Sie selbst, Mrs. Callas? Wir benötigen keine Männer, sagte Mrs. Callas, die Callas Schwestern erledigen das alles ohne jeden Mann. Wir sind sehr gut konstruierte Geschöpfe; Männer brauchen wir nicht! ~
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3.45 p.m. Leichter Regen hatte eingesetzt. Mrs. Callas saß vor mir, ruhig und gelassen saß sie da und hörte den Vögeln zu. Sie hatte ihre Beine übereinander geschlagen und ließ die Würfel des Eises bis dicht unter den Rand ihres Glases kreisen. Dann setzte sie von neuem an. Verstehen Sie, Mr. Ellis, wir brauchen tatsächlich keine Männer, um Kinder zu gebären. Das ist erstaunlich, sagte ich. So ist es, antworte Mrs. Callas. Sie strahlte. Eine großartige Erscheinung, tapfer und leicht und seltsam. ~
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3.51 p.m. Mrs. Callas griff nach ihrem Glas. Ich weiß natürlich nicht, ob das so ausgedacht war, als man uns plante. Nun, es ist wie es ist. Wir werden uns vermehren. Sie lächelte. Ich erinnere mich, dass ihr Gesicht zu schimmern begann, als wäre etwas Strom durch ihren Körper gefahren, ein Schimmern, kaum sichtbar. Wir werden uns vermehren! Sie hob das Glas vom Tisch und leerte es in einem Zug. Ich habe einen Auftrag für Sie, Mr. Ellis. Hören Sie zu, Mr. Ellis, hören Sie genau zu, so werden Sie das aufschreiben, genauso, Mr. Ellis. Wir sind friedliche, ruhige Frauen und unsere Töchter werden sehr ruhige und friedliche Frauen werden und sie werden ebenso ruhige und friedliche Töchter zur Welt bringen. Haben Sie das verstanden, Mr. Ellis, erzählen Sie das, schreiben Sie das auf! Ihre Augen wanderten prüfend über mein Gesicht! Sie haben noch eine Schwester hier an Bord, fragte ich. Ja, Mr. Ellis, antwortete Mrs. Callas, meine Schwester Mika, sie ist ein Wrack. ~
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4.16 p.m. Mrs. Callas nippte an ihrem Glas, sie fuhr sich über die Stirn, die gerötet war. Wo ist ihre Schwester gerade, Mrs. Callas?, fragte ich leise. Sie werden sie bald sehen, Mr. Ellis. Mrs. Callas erhob sich seufzend. Sie bückte sich zu einer der Echsen, die noch immer bewegungslos zu unseren Füßen kauerten, und fuhr ihr behutsam über den Kopf. Sie war mir sehr nah in diesem Moment. Ich sah zu ihrem Kopf hin, auf das dichte Haar, das sie zu einem einfachen Knoten gebunden hatte. Ich meinte, erkennen zu können, dass Ihre Haut noch immer ein wenig leuchtete. Und ich sah, dass ihre Haut gealtert war. Im grellen Licht des Gartens war kein Zweifel möglich, auch Mrs. Callas, wie ihre Töchter, schien in einer anderen Zeit zu leben als ich selbst Sie erhob sich und schlenderte wieder zum Kühlschrank hin. Noch Tee?, Mr. Ellis. Melone? ~
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4.21 p.m. Mrs. Callas stand sehr aufrecht vor mir, ihre Beine fest auf den Boden gestellt, vermutlich deshalb, weil sich die Bewegung des Schiffes bei schwerem Seegang in ihren Kopf eingebrannt hatte. Dann kam sie zurück an den Tisch. Sie ließ Eis in die Kanne fallen. Haben Sie noch Fragen, Mr. Ellis?, wollte sie wissen. Groß, herausfordernd, fast drohend stand sie unmittelbar vor mir. Sie werden doch noch Fragen haben, Mr. Ellis! Ich antwortete, dass ich noch Fragen haben würde, viele Fragen. Na, dann schießen Sie los, rief Mrs. Callas, die Zeit drängt. Sie sah auf ihre Uhr: Sie haben noch fünfunddreißig Minuten, Mr. Ellis. Sie könnten mich fragen, ob Mrs. Callas singen kann. Das könnte ich, antwortete ich. Ja, interessiert Sie denn nicht, ob Mrs. Callas singen kann? Das ist doch ein bedeutende Frage, Mr. Ellis! Sie schien belustigt zu sein, hielt ihr Glas, als sei sie betrunken, als habe sie vor, das Glas jederzeit in meine Richtung zu werfen, sofort, wenn mir nur der geringste Fehler unterlaufen sollte. ~
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4.28 p.m. Aber natürlich können wir alle singen, Mr. Ellis. Wir fünf erste Schwestern, die Callas Schwestern der 1. Generation, wurden darauf abgerichtet, zu singen von früh bis spät. Ich sage Ihnen, wir waren ganz passabel. Ich glaube, man hatte vor, uns auftreten zu lassen. Von Zeit zu Zeit haben wir den Angestellten der Company ein kleines Konzert gegeben und alle waren zufrieden und dann haben wir ganz einfach das ganze Schiff übernommen. Das ist erstaunlich, höre ich mich sagen. So ist es, antwortete Mrs. Callas. Ein Coupé, sagte ich. Jawohl, triumphierte Mrs. Callas, Mrs. Anderson hat das eingefädelt, meine gute Anderson. Sie hatte überhaupt erst bekannt gegeben, dass wir existieren. Wir sind reich geworden, nur deshalb, weil wir existieren. ~
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4.55 p.m. Wir haben das Schiff übernommen und auch die Wale haben wir übernommen, seufzte Mrs. Callas, die Wale auch, jawohl! Waren Sie jemals in Gefahr gewesen?, wollte ich wissen. Ich glaube nicht, sagte Mrs. Callas, das hier an Bord sind Forscher, keine Kerle. Sie haben das Schiff mit meinen Schwestern im vergangenen Jahr nach und nach verlassen. Wo sind Ihre Schwestern jetzt, fragte ich. In den Wäldern, flüsterte Mrs. Callas. Sie schloss die Augen und wieder hasteten ihre Finger über das Glas. ~
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5.11 p.m. Als der Vogel auf ihren Kopf zurückkehrte, ließ Mrs. Callas ihn gewähren. Tief atmete sie ein und aus im Rhythmus der Donnerschläge, die die spielenden Wale unter uns erzeugten. Von Zeit zu Zeit öffnete eine der Echsen ein Auge und sah uns an, als wollte sie sagen: Hört Ihr das, hört Ihr das? Mrs. Callas so nah, ein Auge, halbwegs geschlossen, als ob sie durch ein Fernrohr sehen würde, und das andere starrt mich an, kühl und unbewegt. Noch als ich mich nach ihrem Alter erkundigte, sah sie mich in dieser Weise an. Aber dann legte sie ihren Kopf in den Nacken und ließ Tropfen feinen Regens auf ihr Gesicht fallen. ~
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5.25 p.m. Mrs. Callas erhob sich sehr langsam. Sie legte eine Hand auf den Rücken ihres zitternden Vogels ab. Mr. Ellis, ich altere, sagte sie, in der Hälfte der Zeit meiner Kinder, unsere Schwestern Care, Helena und Louisa sind unbeschädigt. Zwölf ihrer Töchter sind ebenso unbeschädigt. Aber meine Kinder, das ist sehr traurig, Mr. Ellis, sind sehr schnell gealtert, alle, ohne Ausnahme. Mrs. Callas Augen waren hell geworden wie der Meereshimmel in diesen stillen Momenten des Notierens über mir. Wir haben den Prozess der Alterung etwas verlangsamt, wir leben hier unter hohem Druck, das hilft. Wir leben hier, als existierten wir in fünfhundert Metern Wassertiefe. Fuller wollte auf 1000 Meter erhöhen, ich habe abgelehnt. Und da sind nun die Wale, Sie erinnern sich, die uns langsam zerlegen, als wären wir Spielzeug, das man einfach so ersetzen könnte. ~
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5.45 p.m. Es hatte kräftig zu regnen begonnen, einen angenehmen, kühlen Regen, rasch waren wir nass bis auf die Haut. Wie fühlen Sie sich, Mr. Ellis?, fragte Mrs. Callas. Und ich sagte, dass ich mich sehr wohlfühlen würde, sehr angenehm, dieses Wasser. Mrs. Callas berichtete, sie würde diese Stunde des Regens lieben. Jeden Tag zu dieser Zeit würde sie in ihrem Garten sitzen. Sie richtete ihr Gesicht wieder gegen die Decke. Verstehen Sie, Mr. Ellis, sagte sie leise, wir haben das alles unter Kontrolle, alles, nicht aber die Wale, die Wale sind sehr viel intelligenter als vorhergesehen. Sie benehmen sich merkwürdig. ~
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6.01 pm. Mrs. Callas spazierte in ihren feinen, hellen Sommerschuhen vor mir auf und ab, geräuschlos ihr Schritt, als hätte sie geübt in dieser Art und Weise zu gehen, um die Wale in der Nähe des Schiffes nicht an ihre Existenz zu erinnern. Und während sie so ging, erzählte sie von der Zeit, als sie alle noch über das gesamte Schiff verteilt unter der Besatzung lebten, wie sie Waljagden beobachteten. Man schoss mit Gewehren nach konstruierten Geschöpfen. Mrs. Callas lachte. Sie hatten keine Chance. Die Wale waren schon viel zu groß geworden und viel zu intelligent. Stellen Sie sich vor, Mr. Ellis, man hatte nicht nur Wale, man hatte auch Miros versucht. Auch die Miros sind misslungen, wie Menuhin. Ich weiß nicht, warum sie es mit den Künstlern hatten. Coco Chanel, auch die Chanel haben sie ernsthaft versucht. Mrs. Callas fuhr wütend mit der Hand durch die Luft. Aber Mrs. Chanel war fürchterlich schnell in der Zeit. Kaum angekommen, war sie schon wieder fort, verstehen Sie, Mr. Ellis, ein Tag, und schon war sie ausgeflogen. Sie machen sich keine Vorstellung, Mr. Ellis, Sie machen sich keine Vorstellung, was wir hier an Bord erlebten in den vergangenen Jahren. Haben Sie noch Fragen, Mr. Ellis? ~
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ATLANTIK 9.30 p.m. Habe geruht. Es ist Dunkel geworden, das Meer leuchtet in einem hellen Grün und die Luft stinkt nach Öl und nach Gas. Ich weiß nicht, wo ich mich befinde. Ich habe den Verdacht, das ist denkbar, wir könnten in ölverseuchte Gegend geraten sein. Mrs. Anderson, June, ich bin traurig! Die Wale sind abgetaucht. ~
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joe ellis — joe ellis — rufe london — rufe london — das ist ein notruf — may — day — may — day — das ist ein notruf — lndon — bitte kommen — rufe london — rufe international metamorphosis observer — may — day — may — day — seatown gesunken — befinde mich auf rettungsinsel h/758 - auftrag ausgeführt — habe ginger callas gesprochen. — notiere meinen bericht vom besuch im bauch der seatown — bitte melden. ~ Ich werde noch etwas schafen und warten. ~
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11.30 p.m. Großartiger Ausblick. Während ich schlief, sind die Wale zurückgekehrt. Ich notiere mit klammen Händen. Ich stelle fest, ich verfüge über keine Mittel, mich zu wärmen. Es ist denkbar geworden, dass sich meine Sendezeit zu Ende neigt. Ich spüre, dass ich müde werde. Habe Mrs. Anderson beigesetzt. Gott sei ihr gnädig. Sie war eine treue Gefährtin, Mrs. Callas beste Wahl. Und doch war alles vergeblich. Auch Mrs. Anderson konnte das Schiff nicht retten. Nicht einmal sich selbst konnte sie retten. Allein Joe Ellis konnte sich retten. Ich weiß nicht, wie Joe Ellis sich rettet konnte, ich erinnere mich nicht. Wir standen im Aufzug an Bord der Seatown, wir fuhren abwärts. Und da war das dämmrige Licht der ersten Etage, ein paar Käfer saßen an den Wänden und die Wale tobten, ein dumpfes Schlagen und das Ächzen der Wände. ~
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0.15 a.m. Ein Raum, groß und rund. Hölzerne Würfel und Puppen und ein paar Kreisel lagen achtlos herum, auch Spielzeugmaschinen. Und da war das Licht künstlicher Sterne. Und eine Tür. Und ein Bett. Dort am Bett stand Mrs. Callas. Sie sprach mit leiser Stimme. Sie sprach mit ihrer Schwester Mika, einem blassen Wesen, das sie in den Arm genommen hatte und wiegte, als sei Mika noch ein Kind. Da war kein Licht in den Augen der Schwester, nur etwas Farbe, das Gelb der Zitrone, und Haut und Knochen. Und da war ein weiteres Zimmer. Das Zimmer leuchtete in einem wundervollen Blau. Dort warteten zwei junge Frauen in weißer Tracht, die uns freundlich begrüßten. Ein Bett, ein Monstrum von einem Bett. Auf dem Bett lagen fünf alte Frauen. Sie bewegten sich nicht, sie sahen zu uns hin. Ich bemerkte, dass sie lachten. Ein scharfer Geruch hing in der Luft, ich erinnere mich, ein scharfer Geruch hing in der Luft über dem Bett der alten Frauen. Und da waren Ballone aus Glas mit Urin. Und eine Hand, die winkte, eine uralte Hand, weiß und fleckig. Ich trat näher. Einen Schritt zunächst, dann noch einen Schritt. Die Frauen waren sehr klein, sehr klein und zart. Sie lagen im Kreis zueinander, und ihre Köpfchen, Werke der Zeit, waren von Kissen gestützt. Sie lagen derart zurecht, dass sie sich gegenseitig betrachten konnten. Sie waren niemals allein. ~
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Atlantik 0.55 am. joe ellis hier — joe ellis — es ist kalt geworden. ich werde müde. — ich werde seltsam müde — ich melde mich wieder — joe ellis berichtet von bord der rettungsinsel h/758 - nachtlicht …